Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Unpersönliches.
Amadeu trug schwer an Adrianas Dankbarkeit, die etwas Religiöses hatte, etwas Fanatisches. Manchmal ekelte ihn davor, sie konnte servil sein wie eine Sklavin. Aber da war ihre unglückliche Liebe, die Abtreibung, die Gefahr der Vereinsamung. Manchmal habe ich mir einzureden versucht, daß er mich Adrianas wegen nicht in die Praxis holte. Aber es ist nicht die Wahrheit.
Mit Mélodie, seiner Schwester Rita, war es ganz anders, leicht und unbeschwert. Er hatte ein Foto, auf dem er eine der Ballonmützen ihres Mädchenorchesters trug. Er beneidete sie um ihren Mut zur Unstetigkeit. Er gönnte es ihr, daß sie als der ungeplante Nachzügler die seelische Last der Eltern viel weniger zu spüren bekam als die älteren Geschwister. Aber er konnte auch wütend sein, wenn er daran dachte, wieviel leichter sein Leben als Sohn hätte sein können.
Ich war nur ein einziges Mal bei ihm zu Hause. Es war während der Schulzeit. Die Einladung war ein Fehler. Sie waren nett zu mir, aber alle spürten wir, daß ich da nicht hingehörte, nicht in ein reiches, adliges Haus. Amadeu war unglücklich über den Nachmittag.
›Ich hoffe…‹, sagte er, ›ich kann nicht…‹
›Es ist doch nicht wichtig‹, sagte ich.
Viel später traf ich mich einmal mit dem Richter, er hatte darum gebeten. Er spürte, daß Amadeu ihm seine Tätigkeit unter einer Regierung, die Tarrafal auf dem Gewissen hatte, übelnahm. Er verachtet mich, mein eigener Sohn verachtet mich , brach es aus ihm heraus. Und dann erzählte er von seinen Schmerzen und wie der Beruf ihm helfe weiterzuleben. Er warf Amadeu mangelndes Einfühlungsvermögen vor. Ich erzählte ihm, was Amadeu mir gesagt hatte: Ich will ihn nicht wie einen Kranken sehen, dem man alles vergibt. Es wäre dann, als hätte ich keinen Vater mehr.
Was ich ihm nicht erzählte: wie unglücklich Amadeu in Coimbra war. Weil er Zweifel an seiner Zukunft als Arzt hatte. Weil er nicht sicher war, ob er nicht vielleicht nur dem Wunsch des Vaters folgte und sich in seinem eigenen Willen verpaßte.
Er stahl im ältesten Warenhaus der Stadt, wurde beinahe geschnappt und erlitt danach einen Nervenzusammenbruch. Ich besuchte ihn.
›Kennst du den Grund?‹ fragte ich. Er nickte.
Erklärt hat er es mir nie. Aber ich denke, es hatte mit Vater, Gericht und Verurteilung zu tun. Eine Art hilflose, verschlüsselte Revolte. Auf dem Krankenhausflur traf ich O’Kelly.
›Wenn er wenigstens was wirklich Wertvolles geklaut hätte!‹ sagte er nur. ›Dieser Schrott!‹
Ich wußte nicht, ob ich ihn in diesem Moment mochte oder das Gegenteil. Ich weiß es heute noch nicht.«
Der Vorwurf des mangelnden Einfühlungsvermögens war alles andere als berechtigt. Wie oft hat Amadeu in meiner Gegenwart die Haltung eines Bechterevpatienten eingenommen und hat sie beibehalten, bis er einen Rückenkrampf bekam! Um dann erst recht gebückt zu bleiben, den Kopf nach vorne gereckt wie ein Vogel, die Zähne aufeinandergebissen.
›Ich weiß nicht, wie er es aushält‹, sagte er. ›Nicht nur die Schmerzen. Die Demütigung!‹
Wenn seine Phantasie irgendwo versagte, dann bei der Mutter. Die Beziehung zu ihr blieb mir ein Mysterium. Hübsche, gepflegte, aber unscheinbare Frau. ›Ja‹, sagte er ›ja. Das ist es ja. Niemand würde es glauben.‹ Er gab ihr die Schuld an so vielem, daß es eigentlich nicht stimmen konnte. Die mißlingende Abgrenzung; die Arbeitswut; die Überforderung durch sich selbst; die Unfähigkeit zu tanzen und zu spielen. Alles sollte mit ihr und ihrer sanften Diktatur zu tun haben. Doch mit ihm reden konnte man darüber nicht. ›Ich will nicht reden, ich will wütend sein! Einfach nur wütend sein! Furioso! Raivoso! ‹«
Die Dämmerung hatte eingesetzt, Maria João fuhr mit Licht.
»Kennen Sie Coimbra?« fragte sie.
Gregorius schüttelte den Kopf.
»Er liebte die Biblioteca Joanina in der Universität. Es verging keine Woche, ohne daß er dort war. Und die Sala Grande dos Actos , wo er sein Zeugnis entgegennahm. Er ist auch später immer wieder hingefahren, um die Räume zu sehen.«
Als Gregorius ausstieg, wurde ihm schwindlig, und er mußte sich am Wagendach festhalten. Maria João kniff die Augen zusammen.
›Haben Sie das öfter?‹
Er zögerte. Dann log er.
›Sie sollten es nicht auf die leichte Schulter nehmen‹, sagte sie. ›Kennen Sie hier einen Neurologen?‹
Er nickte.
Sie fuhr langsam an, als überlege sie zurückzukommen. Erst an der Kreuzung gab sie Gas. Die Welt
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