Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Jahrhundert nach Portugal brachten, und so weiter.
›Wir könnten zusammen nach Ávila fahren‹, sagte er.
Am nächsten Tag blickte ich vom Klassenzimmer aus hinüber zum Liceu, und da sah ich zwei blendend helle Punkte am Fenster. Es war das Sonnenlicht in den Gläsern seines Opernglases. Es ging alles so schnell, immer ging alles so schnell bei ihm.
In der Pause zeigte er mir das Opernglas. ›Es gehört Mamã‹, sagte er, ›sie geht so gerne in die Oper, aber Papá…‹
Er wollte mich zu einer guten Schülerin machen. Damit ich Ärztin werden könne. Das wolle ich gar nicht, sagte ich, ich wolle Krankenschwester werden.
›Aber du…‹, fing er an.
›Krankenschwester‹, sagte ich, ›eine einfache Krankenschwester.‹
Er brauchte ein Jahr, um es zu akzeptieren. Daß ich auf meiner Vorstellung beharrte und mir nicht die seine aufzwingen ließ – das hat unsere Freundschaft geprägt. Denn das war es: eine lebenslange Freundschaft.
›Du hast so braune Knie, und dein Kleid riecht so gut nach Seife‹, sagte er zwei, drei Wochen nach der ersten Begegnung.
Ich hatte ihm eine Orange geschenkt. Die anderen in der Klasse waren voller Neid: der Adlige und das Bauernmädchen. Warum ausgerechnet Maria? , fragte die eine, als sie nicht wußte, daß ich in der Nähe war. Sie malten sich Dinge aus. Pater Bartolomeu, für Amadeu der wichtigste der Lehrer, mochte mich nicht. Wenn er mich sah, machte er kehrt und ging in eine andere Richtung.
Zum Geburtstag bekam ich ein neues Kleid. Ich bat Mamã, es ein bißchen zu kürzen. Amadeu hat nichts dazu gesagt.
Manchmal kam er jetzt herüber zu uns, und wir gingen in der Pause spazieren. Er erzählte von zu Hause, vom Rücken des Vaters, von den schweigenden Erwartungen der Mutter. Ich erfuhr alles, was ihn bewegte. Ich wurde seine Vertraute. Ja, das ist es, was ich wurde: seine lebenslängliche Vertraute.
Er lud mich nicht zur Hochzeit ein. ›Du würdest dich nur langweilen‹, sagte er. Ich stand hinter einem Baum, als sie aus der Kirche kamen. Die teure Hochzeit eines Adligen. Große, glänzende Autos, eine lange, weiße Schleppe. Männer in Frack und Melone.
Es war das erste Mal, daß ich Fátima zu Gesicht bekam. Ein wohlproportioniertes, schönes Gesicht, weiß wie Alabaster. Langes, schwarzes Haar, knabenhafte Figur. Kein Püppchen, würde ich sagen, aber irgendwie… zurückgeblieben. Ich kann es nicht beweisen, aber ich denke, er hat sie bevormundet. Ohne es zu merken. Er war ein derart beherrschender Mann. Nicht herrschsüchtig, überhaupt nicht, aber beherrschend, strahlend, überlegen. Im Grunde war in seinem Leben gar kein Platz für eine Frau. Als sie starb, war es eine tiefe Erschütterung.«
Maria João schwieg und sah zum Fenster hinaus. Als sie fortfuhr, war es zögerlich, wie mit schlechtem Gewissen.
»Wie gesagt: eine tiefe Erschütterung. Kein Zweifel. Und doch… wie soll ich sagen: keine Erschütterung, die in die letzte, die tiefste Tiefe hineingedrungen wäre. In den ersten Tagen saß er oft bei mir. Nicht, um getröstet zu werden. Er wußte, daß er… daß er das nicht von mir erwarten konnte. Doch, ja, das wußte er. Muß er gewußt haben. Er wollte einfach, daß ich da war. So war es oft: Ich mußte da sein.«
Maria João stand auf, trat ans Fenster und blieb dort stehen, den Blick nach draußen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Als sie weitersprach, tat sie es mit der leisen Stimme der Geheimnisse.
»Beim dritten oder vierten Mal fand er schließlich den Mut, die innere Not war zu groß geworden, er mußte es jemandem sagen. Er konnte keine Kinder zeugen. Er hatte sich operieren lassen, um auf keinen Fall Vater zu werden. Das war lange, bevor er Fátima traf.
›Ich will nicht, daß es kleine, wehrlose Kinder gibt, die die Last meiner Seele tragen müssen‹ sagte er. ›Ich weiß doch, wie es bei mir war – und noch ist.‹
Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen der Kleinen, die voller Ohnmacht sind und voller Unwissen darüber, was mit ihnen geschieht. Wir brauchen ein Leben lang, um den eingebrannten Text zu finden und zu entziffern, und wir können nie sicher sein, daß wir ihn verstanden haben. Gregorius erzählte Maria João, was in dem Brief an den Vater stand.
»Ja«, sagte sie, »ja. Was auf ihm lastete, war nicht der Eingriff, er hat ihn nie bereut. Es war, daß er Fátima nichts davon gesagt hatte. Sie litt unter der Kinderlosigkeit, und er
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