Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
sich als großes Glück tarnt, das gibt es ja. Amadeu, er sehnte sich nach Jorges Stärke, die eine rauhe Stärke war. Überhaupt sehnte er sich nach seiner Rauheit, die man schon an seinen rauhen, rissigen Händen erkennen konnte, an seinem widerborstigen, wirren Haar und an den filterlosen Zigaretten, die er schon damals am laufenden Band rauchte. Ich will ihm nicht Unrecht tun, aber es hat mir nicht gefallen, daß Amadeus Begeisterung für ihn so ohne alle Kritik war. Ich war ein Bauernmädchen, ich wußte, wie Bauernjungs sind. Kein Grund zur Romantik. Wenn es hart auf hart ginge, würde Jorge zuerst an sich selbst denken.
Was ihn an O’Kelly faszinierte und geradezu in einen Rausch versetzen konnte: daß er keine Schwierigkeiten kannte, sich gegen andere abzugrenzen. Er sagte einfach nein und grinste über seine große Nase hinweg. Amadeu dagegen kämpfte um seine Grenzen wie um seine Seligkeit.«
Gregorius erzählte vom Brief an den Vater und dem Satz: Die Anderen sind dein Gerichtshof.
»Ja, genau das war es. Es hat ihn zu einem zutiefst unsicheren Menschen gemacht, zu dem dünnhäutigsten Menschen, den man sich vorstellen kann. Er hatte dieses überwältigende Bedürfnis nach Vertrauen und danach, angenommen zu werden. Er meinte, diese Unsicherheit verbergen zu müssen, und manches, was wie Mut aussah und wie Kühnheit, war einfach eine Flucht nach vorn. Er hat unendlich viel von sich verlangt, viel zuviel, und darüber ist er selbstgerecht und scharfrichterlich geworden.
Alle, die ihn näher kannten, sprachen von dem Gefühl, ihm und seinen Erwartungen nie zu genügen, immer dahinter zurückzubleiben. Daß er wenig von sich selbst hielt, machte alles noch schlimmer. So konnte man sich nicht einmal mit dem Vorwurf der Selbstgefälligkeit zur Wehr setzen.
Wie unduldsam etwa war er Kitsch gegenüber! Vor allem bei Worten und Gesten. Und was für eine Angst hatte er vor dem eigenen Kitsch! ›Man muß sich doch auch in seinem Kitsch annehmen können, um frei zu werden‹, sagte ich. Dann atmete er eine Weile ruhiger, freier. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis. Doch solche Dinge vergaß er schnell, und dann nahm ihn wieder der gepreßte Atem in seinen eisernen, unbarmherzigen Griff.
Er hat gegen den Gerichtshof gekämpft. Mein Gott, hat er gekämpft! Und er hat verloren. Ja, ich glaube, man muß sagen: Er hat verloren.
In ruhigen Zeiten, wo er einfach die Praxis machte und die Leute ihm dankbar waren, da sah es manchmal aus, als hätte er es geschafft. Doch dann passierte die Geschichte mit Mendes. Der Speichel auf dem Gesicht verfolgte ihn, bis zuletzt träumte er immer wieder davon. Eine Hinrichtung.
Ich war dagegen, daß er in den Widerstand ging. Er war nicht der Mann dafür, hatte nicht die Nerven, wenngleich den Verstand. Und ich sah nicht, daß er etwas gutzumachen hatte. Aber es war nichts zu machen. Wenn es um die Seele geht, gibt es weniges, was wir in der Hand haben , sagte er, ich habe Ihnen von diesen Worten bereits erzählt.
Und Jorge war eben auch im Widerstand. Jorge, den er auf diese Weise schließlich verloren hat. Zusammengesunken brütete er in meiner Küche darüber und sprach kein Wort.«
Sie gingen die Treppe hinauf, und Gregorius zeigte ihr die Schulbank, auf die er Prado in Gedanken gesetzt hatte. Es war das falsche Stockwerk, aber sonst fast richtig. Maria João stand am Fenster und blickte hinüber zu ihrem Platz in der Mädchenschule.
»Der Gerichtshof der Anderen. So hat er es auch erlebt, als er Adriana den Hals aufschnitt. Die anderen saßen am Tisch und sahen ihn an wie ein Monster. Dabei hat er das einzig Richtige getan. In meiner Zeit in Paris besuchte ich einen Kurs in Notfallmedizin, da haben sie es uns gezeigt. Koniotomie. Man muß das ligamen conicum querspalten und die Luftröhre dann mit einer Trachealkanüle offenhalten. Sonst stirbt der Patient den Bolustod. Ich weiß nicht, ob ich es könnte und ob ich an einen Kugelschreiber als Ersatz für die Kanüle gedacht hätte. ›Wenn Sie hier anfangen wollen…‹, sagten die Ärzte zu ihm, die Adriana nachher operierten.
Für Adrianas Leben hatte es verheerende Folgen. Wenn man jemandem das Leben gerettet hat: Gerade dann müßte man einen schnellen, leichten Abschied haben. Eine Lebensrettung ist für den anderen und durch den anderen hindurch für einen selbst eine Last, die niemand tragen kann. Deshalb müßte man sie behandeln wie einen Glücksfall der Natur, wie eine Spontanheilung etwa. Etwas
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