Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
und las wieder vor: Ist jemand wirklich interessiert an mir , und nicht nur an seinem Interesse an mir? Er war auf ein längeres Textstück gestoßen, setzte sich auf die Kante von Senhor Cortês’ Schreibtisch und zündete eine Zigarette an.
PALAVRAS TRAI Ç OEIRAS. VERRÄTERISCHE WORTE . Wenn wir über uns selbst, über andere oder auch einfach über Dinge sprechen, so wollen wir uns in unseren Worten – könnte man sagen – offenbaren : Wir wollen zu erkennen geben, was wir denken und fühlen. Wir lassen die anderen einen Blick in unsere Seele tun. ( We give them a piece of our mind , wie man auf englisch sagt. Ein Engländer sagte es zu mir, als wir an der Reling eines Schiffs standen. Das ist das einzig Gute, das ich aus diesem abwegigen Land mitgebracht habe. Vielleicht noch die Erinnerung an den Iren mit dem roten Ball im All Souls .) In diesem Verständnis der Sache sind wir die souveränen Regisseure, die selbstbestimmten Dramaturgen, was das Öffnen unserer selbst angeht. Aber vielleicht ist das ganz und gar falsch? Eine Selbsttäuschung? Denn wir offenbaren uns mit unseren Worten nicht nur, wir verraten uns auch. Wir geben viel mehr preis als das, was wir offenbaren wollten, und manchmal ist es das genaue Gegenteil. Und die anderen können unsere Worte als Symptome für etwas deuten, von dem wir selbst vielleicht gar nichts wissen. Als Symptome für die Krankheit, wir zu sein. Es kann amüsant sein, wenn wir die anderen so betrachten, es kann uns toleranter machen, uns aber auch Munition an die Hand geben. Und wenn wir im Augenblick, wo wir zu sprechen beginnen, daran denken, daß die anderen es mit uns selbst ebenso machen, so kann uns das Wort im Halse steckenbleiben, und der Schreck kann uns für immer zum Verstummen bringen.
Auf der Rückfahrt hielten sie vor einem Gebäude mit viel Stahl und Glas.
»Das ist die Firma«, sagte Silveira. »Ich möchte mir gern eine Fotokopie von Prados Buch machen.«
Er schaltete die Zündung aus und öffnete die Tür. Ein Blick auf das Gesicht von Gregorius ließ ihn innehalten.
»Ach so . Ja. Dieser Text und eine Kopiermaschine – das paßt nicht zusammen.« Er fuhr mit der Hand das Steuerrad entlang. »Und außerdem möchtest du den Text ganz bei dir behalten. Nicht nur das Buch . Den Text .«
Später, als Gregorius wach lag, dachte er immer wieder an diese Sätze. Warum hatte es früher in seinem Leben niemanden gegeben, der ihn so schnell und so mühelos verstand? Bevor sie schlafen gingen, hatte Silveira ihn einen Moment lang umarmt. Er war ein Mann, dem er von seinem Schwindel würde erzählen können. Vom Schwindel und von der Angst vor dem Neurologen.
41
Als João Eça am Sonntag nachmittag unter der Tür seines Heimzimmers stand, sah Gregorius an seinem Gesicht, daß etwas geschehen war. Eça zögerte, bevor er ihn hereinbat. Es war ein kalter Märztag, und trotzdem stand das Fenster weit offen. Eça rückte die Hose zurecht, bevor er sich setzte. Er kämpfte mit sich, während er mit zitternden Händen die Figuren aufstellte. Der Kampf, dachte Gregorius später, galt sowohl seinen Empfindungen als auch der Frage, ob er davon sprechen sollte.
Eça zog den Bauern. »Ich habe heute nacht ins Bett gemacht«, sagte er mit rauher Stimme. »Und habe nichts davon gemerkt.« Er hielt den Blick aufs Brett gesenkt.
Gregorius zog. Zu lange durfte er nicht schweigen. Er sei gestern abend schwindlig durch eine fremde Küche getorkelt und fast in den Armen einer aufgedrehten Frau gelandet, unfreiwillig, sagte er.
Das sei etwas anderes, sagte Eça gereizt.
Weil es nicht den Unterleib betreffe?, fragte Gregorius. In beiden Fällen ginge es doch darum, daß die gewöhnliche Kontrolle über den Körper verlorengegangen sei.
Eça sah ihn an. Es arbeitete in ihm.
Gregorius machte Tee und goß ihm eine halbe Tasse ein. Eça sah den Blick, der auf seine zitternden Hände fiel.
» A dignidade «, sagte er.
»Würde«, sagte Gregorius. »Ich habe keine Ahnung, was das eigentlich ist. Aber ich glaube nicht, daß sie etwas ist, das allein deswegen verlorengeht, weil der Körper versagt.«
Eça verpfuschte die Eröffnung.
»Wenn sie mich zur Folter führten, habe ich in die Hosen gemacht, und sie haben darüber gelacht. Es war eine schreckliche Demütigung ; aber ich hatte nicht das Gefühl, meine Würde zu verlieren. Doch was ist sie dann ?«
Ob er glaube, er hätte die Würde verloren, wenn er geredet hätte, fragte Gregorius.
»Ich habe kein Wort
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