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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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geschlichen, und nun stand er, schwindlig und schwankend, an den Spülstein gelehnt und rieb die Teller blank. Er wollte jetzt keine Angst haben vor dem Schwindel, er wollte die Verrücktheit des Abends genießen, die darin bestand, daß er nach vierzig Jahren nachholte, was er damals auf dem Schülerfest nicht hatte tun können. Ob man in Portugal einen Adelstitel kaufen könne, hatte er beim Dessert gefragt, doch die erhoffte Peinlichkeit war ausgeblieben, sie hielten die Frage für das Gestammel eines Sprachunkundigen. Nur Silveira hatte gegrinst.
    Die Brille war vom heißen Spülwasser beschlagen, Gregorius griff ins Leere und ließ einen Teller fallen, der auf dem Steinfußboden in Stücke ging.
    » Espera, eu ajudo «, sagte Silveiras Nichte Aurora, die plötzlich in der Küche stand. Gemeinsam gingen sie in die Hocke und sammelten die Porzellansplitter auf. Gregorius sah immer noch nichts und stieß mit Aurora zusammen, deren Parfum, dachte er später, genau zu seinem Schwindel paßte.
    » Não faz mal «, sagte sie, als er sich entschuldigte, und verblüfft spürte er, wie sie ihm einen Kuß auf die Stirn drückte. Was er denn hier überhaupt mache, fragte sie, als sie wieder standen, und deutete kichernd auf die Schürze, die er sich umgebunden hatte. Geschirr spülen? Er? Der Gast? Der polyglotte Gelehrte? » Incrível! « Unglaublich!
    Sie tanzten. Aurora hatte ihm die Schürze abgenommen, das Küchenradio angestellt, ihn an Hand und Schulter gefaßt, und nun wirbelte sie ihn zu Walzerklängen durch die Küche. Gregorius hatte die Tanzschule seinerzeit nach anderthalb Lektionen fluchtartig verlassen. Jetzt drehte er sich wie ein Bär, stolperte über die zu lange Hose, ein Drehschwindel griff nach ihm, gleich werde ich fallen , er versuchte, sich an Aurora festzuhalten, die nichts zu merken schien und die Musik mitpfiff, seine Knie gaben nach, und nur der feste Griff von Silveiras Hand verhinderte den Sturz.
    Gregorius verstand nicht, was Silveira zu Aurora sagte, aber der Ton verriet, daß es ein Anschnauzen war. Er half Gregorius, sich hinzusetzen, und brachte ihm ein Glas Wasser.
    Nach einer halben Stunde gingen sie. So etwas habe er noch nicht erlebt, sagte Silveira im Fond des Wagens, Gregorius habe ja diese ganze steife Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Gut, Aurora habe auch sonst diesen Ruf… Aber die anderen… Er solle Gregorius beim nächsten Mal unbedingt wieder mitbringen, hätten sie ihm eingeschärft!
    Sie ließen den Chauffeur zu sich nach Hause fahren, dann setzte sich Silveira ans Steuer, und sie fuhren ins Liceu. »Paßt doch jetzt, irgendwie, oder?« hatte Silveira unterwegs plötzlich gesagt.
    Im Licht der Campinglampe betrachtete Silveira die Bilder von Isfahan. Er nickte. Er warf Gregorius einen Blick zu und nickte von neuem. Auf einem Sessel lag die Decke, wie Maria João sie zusammengefaltet hatte. Silveira setzte sich. Er stellte Gregorius Fragen, wie niemand hier sie gestellt hatte, auch Maria João nicht. Wie er zu den alten Sprachen gekommen sei? Warum er nicht an der Universität sei? Er wußte noch alles, was ihm Gregorius über Florence erzählt hatte. Ob es danach nie mehr eine Frau gegeben habe?
    Und dann erzählte ihm Gregorius von Prado. Es war das erste Mal, daß er über ihn zu jemandem sprach, der ihn nicht gekannt hatte. Er staunte darüber, was er alles von ihm wußte und wieviel er über ihn nachgedacht hatte. Silveira wärmte die Hände an der Campingheizung und hörte zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Ob er das Buch der roten Zedern sehen dürfe, fragte er am Schluß.
    Er blieb mit dem Blick lange beim Portrait. Er las die Einleitung über die tausend stummen Erfahrungen. Er las sie ein zweites Mal. Dann begann er zu blättern. Er lachte und las vor: Kleinliche Buchhaltung über Großzügigkeit: auch das gibt es. Er blätterte um, stockte, blätterte zurück und las vor:
     
    AREIAS MOVEDI Ç AS. TREIBSAND . Wenn wir verstanden haben, daß es bei aller Anstrengung doch reine Glückssache ist, ob uns etwas gelingt oder nicht; wenn wir also verstanden haben, daß wir in allem Tun und Erleben Treibsand sind vor uns selbst und für uns selbst: Was geschieht dann mit all den vertrauten und gepriesenen Empfindungen wie Stolz, Zerknirschung und Scham?
     
    Jetzt stand Silveira aus dem Sessel auf und ging auf und ab, Prados Text vor Augen. Als habe ihn ein Fieber erfaßt. Er las vor: Sich verstehen: Ist das eine Entdeckung oder eine Erschaffung? Er blätterte

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