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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schläge, Gregorius wankte, die Fischer drehten sich, das Meer drehte sich, das Sausen des Winds wurde zu Ohrensausen, es schwoll an und an, um ganz plötzlich in einer Stille zu verschwinden, die alles verschluckte.
    Als er aufwachte, lag er in einem Boot auf der Bank, erschrockene Gesichter über sich. Er richtete sich auf. Der Kopf tat weh. Die Schnapsflasche lehnte er ab. Es gehe schon wieder, sagte er, und fügte hinzu: » ¡El fin del mundo! « Sie lachten erleichtert. Er schüttelte schwielige, rissige Hände, balancierte langsam aus dem Boot und setzte sich hinters Steuer. Er war froh, daß der Motor sofort kam. Die Fischer, die Hände in den Taschen ihres Ölzeugs, sahen ihm nach.
    Im Ort nahm er in einer Pension ein Zimmer und schlief bis in den Nachmittag hinein. Es hatte inzwischen aufgeklart, und es war wärmer geworden. Trotzdem fror er, als er in der Dämmerung zum Kap fuhr. Er setzte sich auf einen Felsblock und sah zu, wie der Lichtschein im Westen immer schwächer wurde, um schließlich ganz zu erlöschen. O mar tenebroso . Die schwarzen Wellen brachen krachend, der helle Schaum wischte mit bedrohlichem Rauschen über den Strand. Das Wort kam nicht. Es kam nicht.
    Gab es das Wort überhaupt? War es am Ende nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der einen feinen Riß bekommen hatte? Wie konnte es geschehen, daß ein Mensch fast den Verstand verlor, weil ihm ein Wort, ein einziges Wort, das nur ein einziges Mal vorkam, entfallen war? Er mochte sich quälen, wenn er in einem Hörsaal saß, vor einer Klausur, in einem Examen. Aber im Angesicht der tosenden See? Mußten die schwarzen Wasser, die dort vorne bruchlos in den Nachthimmel übergingen, solche Sorgen nicht einfach wegwischen als etwas vollkommen Bedeutungsloses, Lächerliches, um das sich nur einer kümmern konnte, der jeglichen Sinn für die Proportionen verloren hatte?
    Er hatte Heimweh. Er schloß die Augen. Er kam Viertel vor acht von der Bundesterrasse und betrat die Kirchenfeldbrücke. Durch die Lauben der Spitalgasse, Marktgasse und Kramgasse ging er hinunter zum Bärengraben. Im Münster hörte er das Weihnachtsoratorium. Er stieg in Bern aus dem Zug und betrat seine Wohnung. Er nahm die Platte des portugiesischen Sprachkurses vom Plattenteller und tat sie in die Besenkammer. Er legte sich aufs Bett und war froh zu wissen: Alles war wie früher.
    Es war ganz unwahrscheinlich, daß Prado und Estefânia Espinhosa hierher gefahren waren. Mehr als unwahrscheinlich. Nichts sprach dafür, nicht das geringste.
    Frierend und mit feuchter Jacke ging Gregorius zum Auto. Der Wagen sah in der Dunkelheit riesig aus. Wie ein Ungetüm, das niemand heil nach Coimbra zurückfahren konnte, am allerwenigsten er.
    Später versuchte er gegenüber der Pension, etwas zu essen, doch es ging nicht. Am Empfang ließ er sich ein paar Bogen Papier geben. Dann setzte er sich im Zimmer an den winzigen Tisch und übersetzte, was der muselmanische Geograph geschrieben hatte, ins Latein, ins Griechische und Hebräische. Er hatte gehofft, daß das Schreiben griechischer Buchstaben das verlorene Wort zurückbringen würde. Doch es geschah nichts, der Raum des Erinnerns blieb stumm und leer.
    Nein, es war nicht so, daß die rauschende Weite der See das Behalten und Vergessen von Worten bedeutungslos machte. Auch nicht das Behalten und Vergessen von Wörtern. Es war nicht so, es war überhaupt nicht so. Ein einziges Wort unter Worten, ein einziges Wort unter Wörtern: Sie waren unberührbar, ganz und gar unberührbar für die Massen des blinden, wortlosen Wassers, und das bliebe auch dann so, wenn das gesamte Universum von heute auf morgen zu einer Welt aus ungezählten Sintfluten würde, in der es unaufhörlich aus allen Himmeln tropfte. Wenn es im Universum nur ein Wort gäbe, ein einziges Wort, dann wäre es kein Wort , aber wenn es doch eines wäre, so wäre es mächtiger und leuchtender als alle Fluten hinter allen Horizonten.
    Langsam wurde Gregorius ruhiger. Bevor er schlafen ging, sah er vom Fenster aus auf den geparkten Wagen hinunter. Morgen, bei Tage, würde es gehen.
    Es ging. Erschöpft und ängstlich nach unruhigem Schlaf fuhr er die Strecke in kleinen Etappen. Während der Pausen suchten ihn regelmäßig die Traumbilder der Nacht heim. Er war in Isfahan gewesen, und es hatte am Meer gelegen. Die Stadt mit ihren Minaretten und Kuppeln, mit dem glänzenden Ultramarin und dem blitzenden Gold hatte sich gegen einen hellen Horizont abgehoben, und deshalb

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