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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hindurch, spürte er einen Schwindel, der kam und ging. Methodisch ging er das ganze Epos in Gedanken durch. Keine andere Stelle kam in Frage. Doch das Exerzitium hatte zur Folge, daß nun auch die vermeintliche Gewißheit, mit der er die Suche begonnen hatte, bröckelte. Der Boden begann zu schwanken, und dieses Mal war es nicht der Schwindel. Sollte er sich auf gröbste Weise getäuscht haben, und es war die Ilias ? Er nahm sie aus dem Regal und blätterte gedankenlos. Die Bewegungen der blätternden Hand wurden leer und mechanisch, das Ziel geriet in Vergessenheit, von Moment zu Moment mehr, Gregorius spürte, wie ihn das Luftkissen umfing, er versuchte aufzustampfen, ruderte mit den Armen, das Buch fiel ihm aus der Hand, die Knie gaben nach, und er glitt in einer sanften, kraftlosen Bewegung zu Boden.
    Als er aufwachte, suchte er mühsam nach der Brille, die eine Armlänge entfernt lag. Er sah auf die Uhr. Es konnte nicht mehr als eine Viertelstunde vergangen sein. Sitzend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand. Minuten vergingen, in denen er nur atmete, froh darüber, daß er sich nicht verletzt hatte und die Brille heil geblieben war.
    Und dann, ganz plötzlich, flammte Panik in ihm auf. War dieses Vergessen der Beginn von etwas? Eine erste, winzige Insel des Vergessens? Würde sie wachsen, und würden andere dazukommen? Wir sind Geröllhalden des Vergessens , hatte Prado irgendwo geschrieben. Und wenn nun eine Geröllawine über ihn käme und die kostbaren Wörter alle mit sich fortrisse? Er umfaßte den Kopf mit seinen großen Händen und drückte, als könne er damit verhindern, daß weitere Wörter verschwänden. Gegenstand für Gegenstand suchte er das Blickfeld ab und gab jedem Ding seinen Namen, erst den mundartlichen, dann den hochdeutschen, den französischen und englischen und schließlich den portugiesischen. Keiner fehlte, und langsam wurde er ruhiger.
    Als die Tür für die nächste Gruppe aufgeschlossen wurde, wartete er in der Ecke, mischte sich einen Moment unter die Leute und verschwand dann durch die Tür. Ein tiefblauer Himmel wölbte sich über Coimbra. Vor einem Café trank er in kleinen, langsamen Schlucken einen Kamillentee. Der Magen entspannte sich, und er konnte etwas essen.
    Die Studenten lagen in der warmen Märzsonne. Ein Mann und eine Frau, ineinander verschlungen, brachen plötzlich in lautes Lachen aus, warfen die Zigaretten weg, erhoben sich mit flüssigen, geschmeidigen Bewegungen und begannen zu tanzen, so leicht und locker, als gäbe es die Schwerkraft nicht. Gregorius spürte den Sog des Erinnerns und überließ sich ihm. Und plötzlich war sie da, die Szene, an die er seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte.
    Fehlerlos, aber ein bißchen schwerfällig , hatte der Professor für Latein gesagt, als Gregorius im Hörsaal aus den Metamorphosen von Ovid übersetzte. Ein Dezembernachmittag, Schneeflocken, elektrisches Licht. Mädchen, die grinsten. Ein bißchen mehr tanzen! , hatte der Mann mit der Fliege und dem roten Halstuch über dem Blazer hinzugefügt. Gregorius hatte das ganze Gewicht seines Körpers in der Bank gespürt. Die Bank hatte geknarrt, als er sich bewegte. Die verbleibende Zeit, in der andere drankamen, hatte er in dumpfer Betäubung dagesessen. Die Betäubung hatte angedauert, als er durch die weihnachtlich geschmückten Lauben ging.
    Nach den Feiertagen war er nicht mehr in diese Veranstaltung gegangen. Dem Mann mit dem roten Halstuch war er ausgewichen, und auch den anderen Professoren ging er aus dem Weg. Von da an hatte er nur noch zu Hause studiert.
    Jetzt zahlte er und ging über den Mondego, den sie O Rio dos Poetas nannten, zurück zum Hotel. Findest du mich einen Langweiler? Wie? Aber Mundus, so etwas kannst du mich doch nicht fragen! Warum taten all diese Dinge so weh, auch jetzt noch? Warum war es ihm in zwanzig, dreißig Jahren nicht gelungen, sie abzuschütteln ?
    Als Gregorius zwei Stunden später im Hotel aufwachte, ging gerade die Sonne unter. Natalie Rubin war mit klackenden Pfennigabsätzen über den Marmor der Korridore in der Universität Bern gegangen. Vorne in einem leeren Hörsaal stehend, hatte er ihr einen Vortrag über Wörter gehalten, die in der griechischen Literatur nur ein einziges Mal vorkamen. Er wollte die Wörter anschreiben, doch die Tafel war so seifig, daß die Kreide abglitt, und als er die Wörter aussprechen wollte, hatte er sie vergessen. Auch Estefânia Espinhosa war durch seinen unruhigen Schlaf gegeistert, eine

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