Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
auf, wo der Fahrer des Postautos unablässig das Steuerrad herumgewuchtet hatte, um es sofort wieder zurückzudrehen.
Die Leute um ihn herum redeten die Sprache Galiciens. Er verstand kein Wort. Er war müde. Er hatte das Wort vergessen. Er, Mundus, hatte ein Wort bei Homer vergessen. Unter dem Tisch preßte er die Füße auf den Boden, um das Luftkissen zu verscheuchen. Er hatte Angst. Angst und Fremdsprache, das paßt nicht zusammen.
Es war leichter, als er gedacht hatte. Bei spitzen, unübersichtlichen Kurven fuhr er Schrittempo, aber nachts wußte man wegen der Scheinwerfer entgegenkommender Autos ja besser Bescheid als am Tag. Die Autos wurden immer weniger, es war nach zwei Uhr. Wenn er daran dachte, daß er, wenn der Schwindel kam, auf der engen Straße nicht ohne weiteres anhalten konnte, erfaßte ihn Panik. Dann aber, als ein Schild die Nähe von Noia anzeigte, wurde er übermütig und schnitt die Kurven. Ein bißchen schwerfällig. Aber Mundus, so etwas kannst du mich doch nicht fragen! Warum hatte Florence nicht einfach gelogen! Du ein Langweiler? Aber überhaupt nicht!
Gab es das eigentlich: daß man Verletzendes einfach abschüttelte? Wir sind weit in die Vergangenheit hinein ausgebreitet, hatte Prado notiert . Das kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht.
Von Noia bis Finisterre waren es hundertfünfzig Kilometer guter Straße. Man sah das Meer nicht, doch man ahnte es. Es ging auf vier Uhr. Ab und zu hielt Gregorius. Es war kein Schwindel, entschied er jedesmal, es war einfach, daß das Gehirn vor Müdigkeit im Schädel zu schwimmen schien. Nach vielen dunklen Tankstellen fand er schließlich eine, die offen hatte. Wie Finisterre sei, fragte er den verschlafenen Tankwart. » Pues, el fin del mundo! « lachte er.
Als Gregorius in Finisterre einfuhr, begann es durch einen wolkenverhangenen Himmel hindurch zu dämmern. Als erster Gast trank er in einer Bar einen Kaffee. Ganz wach und ganz fest stand er auf dem Steinfußboden. Das Wort würde wiederkommen, dann, wenn er es am wenigsten erwartete, so war das Gedächtnis, das kannte man doch. Er genoß es, die verrückte Fahrt gemacht zu haben und jetzt hier zu sein, und nahm die Zigarette, die ihm der Wirt anbot. Nach dem zweiten Lungenzug überkam ihn leichter Schwindel. » Vértigo «, sagte er zum Wirt, »ich bin ein Experte für Schwindel, es gibt ganz viele Arten, und ich kenne sie alle.« Der Wirt verstand nicht und putzte energisch die Theke.
Die wenigen Kilometer bis zum Kap fuhr Gregorius mit offenem Fenster. Die salzige Seeluft war wunderbar, und er fuhr ganz langsam wie jemand, der eine Vorfreude auskostet. Die Straße endete an einem Hafen mit Fischerbooten. Die Fischer waren vor kurzem zurückgekommen und standen rauchend beieinander. Er wußte später nicht mehr, wie es gekommen war, doch auf einmal stand er bei den Fischern und rauchte ihre Zigaretten, es war wie ein stehender Stammtisch unter freiem Himmel.
Ob sie mit ihrem Leben zufrieden seien, fragte er. Mundus, ein Berner Altphilologe, der galizische Fischer am Ende der Welt nach der Einstellung zu ihrem Leben fragte. Gregorius genoß es, er genoß es über alle Maßen, die Freude an der Absurdität mischte sich mit Müdigkeit, Euphorie und einem unbekannten Gefühl befreiender Entgrenzung.
Die Fischer verstanden die Frage nicht, und Gregorius mußte sie in seinem radebrechenden Spanisch zweimal wiederholen. »¿Contento?« rief einer von ihnen schließlich aus. »Wir kennen nichts anderes!« Sie lachten und lachten immer weiter, bis daraus ein brüllendes Gelächter wurde, in das Gregorius mit solcher Heftigkeit einstimmte, daß ihm die Augen zu tränen begannen.
Er legte einem der Männer die Hand auf die Schulter und drehte ihn zum Meer hin.
» ¡Siempre derecho, más y más – nada! « rief er in eine Windböe hinein.
» ¡America! « rief der Mann. » ¡America! «
Er holte aus einer Innentasche seiner Jacke das Foto eines Mädchens in Bluejeans, Stiefeln und Cowboyhut.
» ¡Mi hija! « Meine Tochter! Er gestikulierte in Richtung Meer.
Die anderen rissen ihm das Bild aus der Hand.
» ¡Qué guapa es! « Wie hübsch sie ist!, riefen sie durcheinander.
Gregorius lachte und gestikulierte und lachte, die anderen schlugen ihm auf die Schultern, rechts und links und rechts, es waren derbe
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