Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Gestalt mit leuchtenden Augen und olivfarbenem Teint, tonlos zuerst, dann als Dozentin, die unter einer riesigen, goldverkleideten Kuppel Vorlesungen über Themen hielt, die es nicht gab. Doxiades hatte sie unterbrochen. Kommen Sie nach Hause , hatte er gesagt, wir untersuchen Sie am Bubenbergplatz .
Gregorius saß auf der Bettkante. Das homerische Wort kam auch jetzt nicht. Und die Unsicherheit über die Stelle, wo es zu finden wäre, begann ihn wieder zu quälen. Es hatte keinen Sinn gehabt, die Ilias in die Hand zu nehmen. Es war in der Odyssee . Es war dort . Er wußte es. Aber wo?
Der nächste Zug nach Lissabon, das hatten sie beim Empfang unten festgestellt, ging erst morgen früh. Er griff nach dem großen Buch über das finstere Meer und las weiter, was El Edrisí, der muselmanische Geograph, geschrieben hatte: Niemand weiß – sagt man uns –, was es in diesem Meer gibt, und man kann es auch nicht untersuchen, denn es gibt zu viele Hindernisse, die sich der Schiffahrt entgegenstellen: die tiefe Finsternis, die hohen Wellen, die häufigen Stürme, die zahllosen Ungeheuer, die es bevölkern, und die heftigen Winde. Er hätte sich gern eine Fotokopie der beiden Aufsätze von Estefânia Espinhosa über Finisterre machen lassen, war aber beim Bibliothekspersonal gescheitert, weil ihm die Worte fehlten.
Er blieb noch eine Weile sitzen. Es müssen Tests gemacht werden , hatte Doxiades gesagt. Und auch die Stimme von Maria João hörte er: Sie sollten es nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Er duschte, packte und ließ von der verdutzten Frau am Empfang ein Taxi rufen. Der Autoverleih am Bahnhof hatte noch offen. Sie müßten ihm aber den heutigen Tag auch berechnen, sagte der Mann. Gregorius nickte, unterschrieb für zwei weitere Tage und ging zum Parkplatz.
Den Führerschein hatte er als Student gemacht, mit dem Geld, das er mit dem Unterrichten verdiente. Das war vor vierunddreißig Jahren gewesen. Seither war er nicht mehr gefahren, der vergilbte Schein mit dem jugendlichen Foto und der fettgedruckten Vorschrift, eine Brille zu tragen und nachts nicht zu fahren, hatte unbenutzt in der Mappe seiner Reisedokumente gelegen. Der Mann beim Verleih hatte die Stirn gerunzelt, sein Blick war zwischen dem Foto und dem wirklichen Gesicht hin und her gegangen, aber er hatte nichts gesagt.
Hinter dem Steuer des großen Wagens wartete Gregorius, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Langsam probierte er alle Knöpfe und Schalter. Mit kalten Händen startete er den Motor, legte den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung los und würgte den Wagen ab. Erschrocken ob des heftigen Rucks schloß er die Augen und wartete von neuem, bis der Atem ruhig wurde. Beim zweiten Versuch hoppelte der Wagen, lief aber weiter, und Gregorius fuhr rückwärts aus der Parklücke. Die Schleifen zur Ausfahrt fuhr er im Schrittempo. Bei einer Ampel an der Stadtausfahrt ging der Wagen noch einmal aus. Danach wurde es immer besser.
Die Autobahn bis Viana do Castelo brachte er in zwei Stunden hinter sich. Ruhig saß er hinter dem Steuer und hielt sich auf der rechten Spur. Er begann, die Fahrt zu genießen. Es gelang ihm, die Sache mit dem Homerischen Wort so weit in den Hintergrund zu schieben, daß man es beinahe ein Vergessen nennen konnte. Übermütig geworden, drückte er das Gaspedal durch und hielt das Steuer mit gestreckten Armen.
Ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam auf der Gegenfahrbahn entgegen. Die Dinge begannen sich zu drehen, Gregorius nahm das Gas weg, schlitterte nach rechts auf die Standspur, nahm die Grasnarbe mit und kam Zentimeter von der Leitplanke entfernt zum Stehen. Rasende Lichtkegel fluteten über ihn hinweg. Später, auf dem nächsten Parkplatz, stieg er aus und atmete vorsichtig die kühle Nachtluft ein. Sie sollten nach Hause kommen. Mit den Ärzten in der Muttersprache reden.
Eine Stunde später, hinter Valença do Minho, kam die Grenze. Zwei Männer der Guardia Civil mit Maschinenpistolen winkten ihn durch. Von Tui nahm er die Autobahn über Vigo, Pontevedra und weiter nach Norden Richtung Santiago. Kurz vor Mitternacht machte er Halt und studierte beim Essen die Karte. Es gab keine andere Lösung: Wenn er nicht den riesigen Umweg über die Landzunge von Santa Eugenia fahren wollte, mußte er bei Padrón auf die Gebirgsstraße nach Noia hinüber, der Rest war klar, immer der Küste entlang bis Finisterre. Er war noch nie eine Gebirgsstraße gefahren, und es stiegen Bilder von Schweizerpässen in ihm
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