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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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war er erschrocken, als er aufs Meer blickte und sah, daß es schwarz und brausend vor der Wüstenstadt tobte. Ein heißer, trockener Wind trieb ihm feuchte, schwere Luft ins Gesicht. Zum erstenmal hatte er von Prado geträumt. Der Goldschmied der Worte tat nichts, er war in der weiten Arena des Traums nur anwesend, wortlos und vornehm, und Gregorius suchte, das Ohr an Adrianas riesigem Tonbandgerät, nach dem Klang seiner Stimme.
    Bei Viana do Castelo, kurz vor der Autobahn nach Porto und Coimbra, spürte Gregorius, daß ihm das verlorene Wort aus der Odyssee auf der Zunge lag. Er schloß hinter dem Steuer unwillkürlich die Augen und versuchte mit aller Kraft zu verhindern, daß es zurück ins Vergessen sänke. Wildes Hupen ließ ihn zusammenfahren. In letzter Sekunde konnte er den Wagen, der auf die Gegenfahrbahn geraten war, herumreißen und einen frontalen Zusammenstoß verhindern. Bei der nächsten Ausweichstelle hielt er und wartete, bis das schmerzhafte Pochen des Bluts im Gehirn abnahm. Danach fuhr er hinter einem langsamen Lastwagen bis nach Porto. Die Frau beim Autoverleih war nicht erbaut, daß er den Wagen hier und nicht in Coimbra zurückgeben wollte. Doch nach einem langen Blick auf sein Gesicht erklärte sie sich schließlich einverstanden.
    Als sich der Zug in Richtung Coimbra und Lissabon in Bewegung setzte, lehnte Gregorius den Kopf erschöpft an die Stütze. Er dachte an die Abschiede in Lissabon, die vor ihm lagen. Das ist der Sinn eines Abschieds im vollen, gewichtigen Sinne des Worts: daß sich die beiden Menschen, bevor sie auseinandergehen, darüber verständigen, wie sie sich gesehen und erlebt haben , hatte Prado in seinem Brief an die Mutter geschrieben. Sich verabschieden, das ist auch etwas, das man mit sich selbst macht: zu sich selbst stehen unter dem Blick des Anderen. Der Zug nahm volle Fahrt auf. Der Schreck über den Unfall, den er um ein Haar verursacht hätte, begann zu weichen. Bis Lissabon wollte er an nichts mehr denken.
    Genau in dem Augenblick, in dem es ihm, unterstützt vom monotonen Klopfen der Räder, gelang, die Dinge loszulassen, war das verlorene: λίοтϱον , ein Schurfeisen zum Reinigen des Saalbodens. Und jetzt wußte er auch wieder, wo es stand: in der Odyssee, gegen Ende des 22. Gesangs.
    Die Abteiltür ging auf, und es nahm ein junger Mann Platz, der eine Boulevardzeitung mit riesigen Lettern entfaltete. Gregorius stand auf, nahm sein Gepäck und ging bis ans Ende des Zugs, wo er ein leeres Abteil fand. Λ ίοтϱον , sagte er vor sich hin, λίοтϱον .
    Als der Zug im Bahnhof von Coimbra hielt, dachte er an den Hügel der Universität und an den Landvermesser, der in seiner Vorstellung mit einem altertümlichen Arztköfferchen über die Brücke ging, ein schmaler, nach vorne gebeugter Mann im grauen Arbeitskittel, der darüber nachdachte, wie er die Leute auf dem Schloßberg dazu bewegen konnte, ihm Einlaß zu gewähren.
    Als Silveira am Abend aus der Firma nach Hause kam, ging ihm Gregorius in der Halle entgegen. Silveira stutzte und kniff die Augen zusammen.
    »Du fährst nach Hause.«
    Gregorius nickte.
    »Erzähl!«

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    »Wenn Sie mir Zeit gelassen hätten – ich hätte einen Portugiesen aus Ihnen gemacht«, sagte Cecília. »Denken Sie daran, wenn Sie wieder in Ihrem rauhen, kehligen Land sind: doce , suave , und wir hüpfen über die Vokale hinweg.«
    Sie zog das grüne Halstüchlein über die Lippen, es blähte sich, als sie sprach. Sie lachte, als sie seinen Blick sah.
    »Das mit dem Tüchlein, das mögen Sie. Nicht?« Und sie blies ganz heftig.
    Sie gab ihm die Hand. »Ihr unglaubliches Gedächtnis. Ich werde Sie schon deswegen nicht vergessen.«
    Gregorius hielt ihre Hand, bis es nicht mehr ging. Er zögerte. Schließlich riskierte er es.
    »Gibt es einen Grund, weshalb…«
    »Sie meinen: weshalb ich immer grün angezogen bin? Ja, den gibt es. Sie hören ihn, wenn Sie wiederkommen.«
    Quando voltares. Wenn Sie wiederkommen. Quando hatte sie gesagt, nicht se . Auf dem Weg zu Vítor Coutinho stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er am Montag morgen in der Sprachschule erschiene. Wie ihr Gesicht aussähe. Wie sich ihre Lippen bewegten, wenn sie ihm den Grund für das ewige Grün erzählte.
    »Que quer?« rief Coutinhos bellende Stimme eine Stunde später.
    Der Türöffner summte, der Alte kam die Treppe herunter, die Pfeife zwischen den Zähnen. Einen Moment lang mußte er im Gedächtnis suchen.
    » Ah, c’est vous «, sagte er

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