Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Portugiese wie ein Inquisitor vor.
Wie lange man brauche, um Griechisch zu lernen, fragte Silveira jetzt. Gregorius atmete auf und stürzte sich in eine Antwort, die viel zu lange geriet. Ob er ihm ein paar Worte auf Hebräisch aufschreiben könnte, hier auf die Serviette, fragte Silveira.
Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht , schrieb Gregorius und übersetzte es für ihn.
Silveiras Telefon klingelte. Er müsse gehen, sagte er, als das Gespräch zu Ende war. Er schob die Serviette in die Jackentasche. »Wie war das Wort für Licht?« fragte er, schon im Stehen, und auf dem Weg zur Tür wiederholte er es für sich.
Der breite Fluß draußen mußte bereits der Tejo sein. Gregorius fuhr zusammen: Das hieß, daß sie bald ankommen würden. Er ging ins Abteil, das der Schaffner in der Zwischenzeit in ein gewöhnliches Abteil mit plüschiger Sitzbank verwandelt hatte, und setzte sich ans Fenster. Er wollte nicht, daß die Fahrt zu Ende ging. Was sollte er in Lissabon? Er hatte ein Hotel. Er würde dem Pagen ein Trinkgeld geben, die Tür schließen, sich ausruhen. Und dann?
Zögernd nahm er Prados Buch in die Hand und blätterte.
SAUDADE PARADOXAL. WIDERSINNIGE SEHNSUCHT . An 1922 Tagen habe ich das Liceu betreten, in das mich mein Vater schickte, das strengste im ganzen Land, wie man sagte. »Du brauchst ja kein Gelehrter zu werden«, sagte er und versuchte ein Lächeln, das wie meistens mißlang. Schon am dritten Tag war mir klar, daß ich die Tage zählen mußte, um von ihnen nicht zermalmt zu werden.
Während Gregorius zermalmen im Wörterbuch nachschlug, fuhr der Zug in den Bahnhof Santa Apolónia von Lissabon ein.
Die wenigen Sätze hatten ihn gefangengenommen. Es waren die ersten Sätze, die etwas über das äußere Leben des Portugiesen verrieten. Schüler eines strengen Gymnasiums, der die Tage zählte, und Sohn eines Vaters, dem das Lächeln meistens mißlang. Lag da der Ursprung der verhaltenen Wut, die aus anderen Sätzen sprach? Gregorius hätte nicht sagen können, warum, aber er wollte mehr über diese Wut wissen. Er sah jetzt die ersten Striche in einem Portrait von jemandem, der hier, in dieser Stadt, lebte. Von jemandem, mit dem er mehr zu tun haben wollte. Es war, als wachse ihm die Stadt in diesen Sätzen entgegen. Als habe sie gerade eben aufgehört, eine ganz fremde Stadt zu sein.
Er nahm seine Reisetasche und trat auf den Bahnsteig hinaus. Silveira hatte auf ihn gewartet. Er brachte ihn zum Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse des Hotels. »Sie haben meine Karte«, sagte er zu Gregorius und machte eine knappe Geste des Abschieds.
7
Als Gregorius aufwachte, war es später Nachmittag, und die Dämmerung senkte sich über die wolkenverhangene Stadt. Gleich nach der Ankunft hatte er sich in Kleidern unter die Tagesdecke gelegt und war in einen bleiernen Schlaf geglitten, in dem ihn das Gefühl umklammert hielt, daß er sich eigentlich keinen Schlaf gönnen durfte, denn es gab tausend Dinge zu tun, Dinge, die keinen Namen hatten, ohne daß sie dadurch weniger dringlich gewesen wären, im Gegenteil, ihre gespenstische Namenlosigkeit machte sie zu etwas, das man sofort in Angriff nehmen mußte, um zu verhindern, daß etwas Schlimmes geschah, etwas, das sich nicht benennen ließ. Als er sich nun im Bad das Gesicht wusch, spürte er mit Erleichterung, daß mit der Benommenheit auch die Angst davor wich, etwas zu versäumen und dadurch Schuld auf sich zu laden.
Während der nächsten Stunde saß er am Fenster und versuchte vergeblich, die Gedanken zu ordnen. Ab und zu streifte sein Blick die Reisetasche, die unausgepackt in der Ecke stand. Als es Nacht geworden war, ging er hinunter zum Empfang und ließ beim Flughafen anfragen, ob es noch einen Flug nach Zürich oder Genf gebe. Es gab keinen, und als er im Lift nach oben fuhr, spürte er mit Erstaunen, wie erleichtert er darüber war. Dann saß er im Dunkeln auf dem Bett und versuchte, die überraschende Erleichterung zu deuten. Er wählte die Nummer von Doxiades und ließ es zehnmal klingeln, bevor er auflegte. Er schlug das Buch von Amadeu de Prado auf und las dort weiter, wo er am Bahnhof aufgehört hatte.
Sechsmal am Tag hörte ich das Bimmeln der Turmglocke, das den Beginn des Unterrichts verkündete und klang, als würden Mönche zum Gebet gerufen. Somit waren es 11532 Male, daß ich auf die Zähne biß und vom Hof in das düstere Gebäude zurückging, statt meiner Einbildungskraft Folge zu leisten, die mich
Weitere Kostenlose Bücher