Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
sollte nun aus dem Unterricht werden; Anita Mühletaler, die gerade eine Scheidung hinter sich hatte, neigte nachdenklich den Kopf, sie konnte sich so etwas vorstellen, wenn auch nicht für sich selbst; Kalbermatten, der Schürzenjäger und heimliche Anarchist aus Saas Fee, würde im Lehrerzimmer vielleicht sagen: »Warum eigentlich nicht?«; während Virginie Ledoyen, die Französischlehrerin, deren verkniffene Erscheinung in schreiendem Gegensatz zu ihrem glitzernden Namen stand, auf die Nachricht mit einem scharfrichterlichen Blick reagieren würde. All das schien zunächst ganz klar. Doch dann war Gregorius eingefallen, wie er den bigotten Familienvater Burri vor einigen Monaten in Begleitung einer Blondine gesehen hatte, die in ihrem kurzen Rock mehr als eine Bekannte zu sein schien; wie kleinlich Anita Mühletaler sein konnte, wenn Schüler über die Stränge schlugen; wie feige Kalbermatten war, wenn es darum ging, Kägi Widerstand zu leisten; und wie leicht sich Virginie Ledoyen von gewissen Schülern, die ihr zu schmeicheln verstanden, um den Finger wickeln und von strengen Vorhaben abbringen ließ.
Ließ sich daraus etwas ableiten? Etwas, das die Einstellung zu ihm und seinem überraschenden Tun betraf? Ließ sich verborgenes Verständnis vermuten, oder sogar heimlicher Neid? Gregorius hatte sich aufgerichtet und in die Landschaft hinausgeblickt, die in das silbrig schimmernde Grün der Olivenhaine getaucht war. Die Vertrautheit, in der er all die Jahre mit seinen Kollegen gelebt hatte, entpuppte sich als geronnenes Unwissen, das zur trügerischen Gewohnheit geworden war. Und war es ihm eigentlich wichtig – wirklich wichtig – zu wissen, was sie dachten? Hing es nur an seinem übernächtigten Kopf, daß er das nicht wußte, oder war er dabei, sich einer Fremdheit bewußt zu werden, die schon immer bestanden, sich aber hinter sozialen Ritualen versteckt hatte?
Verglichen mit dem Gesicht, das in der schummrigen Beleuchtung des nächtlichen Abteils durchlässig geworden war – durchlässig für die Gefühle, die von innen nach außen drängten, und durchlässig für den Blick von außen, der sie zu ergründen suchte –, waren Silveiras Züge heute morgen verschlossen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als bereue er, sich in der Intimität des Abteils, wo es nach Wolldecke und Desinfektionsmittel gerochen hatte, einem wildfremden Mann geöffnet zu haben, und Gregorius setzte sich nur zögerlich zu ihm an den Tisch. Doch bald verstand er: Es waren nicht Rückzug und Zurückweisung, die sich in den straffen, beherrschten Zügen äußerten, sondern eine nachdenkliche Nüchternheit, die verriet, daß die Begegnung mit Gregorius in Silveira komplizierte, ihn überraschende Empfindungen hervorgerufen hatte, zu denen er nun ein Verhältnis suchte.
Er deutete auf das Telefon neben seiner Tasse. »Ich habe in dem Hotel, in dem ich meine Geschäftspartner unterbringe, ein Zimmer für Sie bestellt. Hier ist die Adresse.«
Er reichte Gregorius eine Visitenkarte mit den Angaben auf der Rückseite. Er müsse vor der Ankunft noch einige Papiere durchsehen, sagte er dann und schickte sich an aufzustehen. Doch dann lehnte er sich noch einmal zurück, und die Art, wie er Gregorius nun ansah, bewies, daß etwas in ihm in Gang gekommen war. Ob er es nie bereut habe, sein Leben den alten Sprachen gewidmet zu haben, fragte er. Das habe ja sicher ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben bedeutet.
Findest du mich einen Langweiler? Gregorius fiel ein, wie ihn die Frage, die er damals an Florence gerichtet hatte, auf der gestrigen Fahrt beschäftigt hatte, und etwas davon mußte auf seinem Gesicht zu sehen sein, denn Silveira sagte erschrocken, er möge seine Worte bitte nicht mißverstehen, er versuche sich nur vorzustellen, wie es wäre, ein solches Leben zu leben, das so ganz anders sein würde als das seine.
Es sei das Leben gewesen, das er gewollt habe, sagte Gregorius, und noch während sich die Worte in ihm formten, spürte er erschrocken, daß in der Festigkeit, mit der er sie sagte, Trotz lag. Noch vor zwei Tagen, als er die Kirchenfeldbrücke betreten und die lesende Portugiesin gesehen hatte, hätte er diesen Trotz nicht nötig gehabt. Er hätte genau dasselbe gesagt, aber die Worte hätten nicht den Hauch des Trotzigen an sich gehabt, sondern wären aus ihm gekommen wie ein unauffälliger, ruhiger Atemzug.
Und warum sitzen Sie dann hier? Gregorius fürchtete die Frage, und einen Moment lang kam ihm der elegante
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