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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schülerinnen aus der Mädchenschule herübergekommen. »Bist du froh, daß es vorbei ist?« fragte Maria João und setzte sich neben mich. Sie musterte mich. »Oder bist du am Ende traurig darüber?«
    Jetzt endlich scheine ich zu wissen, was mich stets von neuem zwingt, die Fahrt hinaus zur Schule zu unternehmen: Ich möchte zurück zu jenen Minuten auf dem Schulhof, in denen die Vergangenheit von uns abgefallen war, ohne daß die Zukunft schon begonnen hätte. Die Zeit stockte und hielt den Atem an, wie sie es später nie mehr tat. Sind es Maria Joãos braune Knie und der Duft der Seife in ihrem hellen Kleid, zu denen ich zurückmöchte? Oder geht es um den Wunsch – den traumgleichen, pathetischen Wunsch –, noch einmal an jenem Punkt meines Lebens zu stehen und eine ganz andere Richtung einschlagen zu können als diejenige, die aus mir den gemacht hat, der ich nun bin?
    Es ist etwas Sonderbares um diesen Wunsch, er schmeckt nach Paradoxie und logischer Absonderlichkeit. Denn derjenige, der sich das wünscht – er ist ja nicht etwa jener, der, von der Zukunft noch unberührt, an der Weggabelung steht. Vielmehr ist es der von der durchschrittenen, zur Vergangenheit gewordenen Zukunft Gezeichnete, der sich zurückwünscht, um das Unwiderrufliche zu widerrufen. Und würde er es widerrufen wollen, wenn er es nicht erlitten hätte? Noch einmal auf dem warmen Moos zu sitzen und die Mütze zu halten – es ist der widersinnige Wunsch, in der Zeit hinter mich selbst zurückzureisen und mich – den vom Geschehenen Gezeichneten – doch auf diese Reise auch mitzunehmen. Und ist es vorstellbar, daß der damalige Junge dem Wunsch des Vaters getrotzt und den medizinischen Hörsaal nicht betreten hätte – so, wie ich mir das heute manchmal wünsche? Hätte er es tun und ich sein können? Es gab in mir damals keinen Standpunkt der erlittenen Erfahrung, von dem aus ich mir wünschen konnte, an der Weggabelung eine andere Abzweigung zu nehmen. Was würde es mir also nützen, die Zeit zurückzudrehen und mich, Erfahrung für Erfahrung löschend, in den Jungen zurückzuverwandeln, der dem frischen Geruch von Maria Joãos Kleid und dem Anblick ihrer braunen Knie verfallen war? Der Junge mit der Mütze – er hätte sich schon sehr von mir unterscheiden müssen, um in der Weise eine andere Richtung einzuschlagen, wie ich mir das heute wünsche. Dann aber, als ein anderer, wäre er auch nicht zu einem geworden, der sich später eine Rückkehr zu der früheren Weggabelung wünscht. Kann ich mir wünschen, er zu sein? Es kommt mir vor, als könnte ich zufrieden sein, er zu sein. Aber diese Zufriedenheit – es kann sie nur für mich geben, der ich nicht er bin, nur als Erfüllung der Wünsche, die nicht die seinen sind. Wäre ich tatsächlich er – ich hätte nicht die Wünsche, die mich in ihrer Erfüllung so zufrieden machen könnten, er zu sein, wie es meine eigenen vermögen, solange ich vergesse, daß ich sie, wenn sie sich erfüllten, gar nicht hätte.
    Und doch bin ich gewiß, daß ich bald wieder mit dem Wunsch aufwachen werde, zur Schule zu fahren und damit einer Sehnsucht nachzugeben, deren Gegenstand es gar nicht geben kann, weil man ihn nicht einmal denken kann. Kann es etwas Verrückteres geben als dieses: von einem Wunsch in Bewegung gesetzt zu werden, der keinen denkbaren Gegenstand hat?
     
    Es war beinahe Mitternacht, als Gregorius schließlich sicher war, den schwierigen Text verstanden zu haben. Prado war also Arzt, und er war es geworden, weil der Vater, dem das Lächeln meistens mißlang, diesen gebieterischen Wunsch gehabt hatte, einen Wunsch, der nicht diktatorischer Willkür oder väterlicher Eitelkeit entsprungen war, sondern sich aus der Hilflosigkeit chronischer Schmerzen heraus entwickelt hatte. Gregorius schlug das Telefonbuch auf. Es gab den Namen Prado vierzehnmal, aber es war kein Amadeu darunter, kein Inácio und kein Almeida . Warum hatte er angenommen, daß Prado in Lissabon lebte? Jetzt suchte er im Branchenverzeichnis nach dem Verlag cedros vermelhos : nichts. Würde er das ganze Land absuchen müssen? Ergab das einen Sinn? Auch nur den geringsten Sinn?
    Gregorius machte sich auf den Weg in die nächtliche Stadt. Nach Mitternacht in die Stadt gehen – das tat er, seit er mit Mitte zwanzig die Fähigkeit verloren hatte, mühelos einzuschlafen. Unzählige Male war er durch die leeren Gassen von Bern gegangen, war von Zeit zu Zeit stehengeblieben und hatte wie ein Blinder auf die wenigen

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