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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schritte gehorcht, die kamen oder gingen. Er liebte es, vor den dunklen Schaufenstern der Buchhandlungen zu stehen und das Gefühl zu haben, daß, weil die anderen schliefen, all diese Bücher ganz allein ihm gehörten. Mit langsamen Schritten bog er jetzt aus der Seitenstraße des Hotels in die breite Avenida da Liberdade ein und ging in die Richtung der Baixa, der Unterstadt, in der die Straßen angeordnet waren wie auf einem Schachbrett. Es war kalt, und ein feiner Nebel bildete einen milchigen Hof um die altmodischen Laternen mit ihrem goldenen Licht. Er fand ein Stehcafé, wo er ein belegtes Brot aß und einen Kaffee trank.
    Prado setzte sich stets von neuem auf die Stufen seiner Schule und stellte sich vor, wie es gewesen wäre, ein ganz anderes Leben zu leben. Gregorius dachte an die Frage, die ihm Silveira gestellt und auf die er die trotzige Antwort gegeben hatte, daß er das Leben gelebt habe, das er wollte. Er spürte, wie das Bild des zweifelnden Arztes auf den moosigen Stufen und die Frage des zweifelnden Geschäftsmanns im Zug in ihm etwas ins Rutschen brachten, etwas, das in den sicheren, vertrauten Straßen Berns niemals ins Rutschen geraten wäre.
    Jetzt zahlte der einzige Mann, der außer ihm noch im Café war, und ging hinaus. Mit einer plötzlichen Hast, die ihm unbegreiflich war, zahlte auch Gregorius und ging dem Mann nach. Es war ein älterer Mann, der ein Bein nachzog und hin und wieder stehenblieb, um sich auszuruhen. Gregorius folgte ihm in großem Abstand ins Bairro Alto, die Oberstadt, bis er hinter der Tür eines schmalen, schäbigen Hauses verschwand. Jetzt ging im ersten Stock das Licht an, der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und nun stand der Mann am offenen Fenster, eine Zigarette zwischen den Lippen. Aus dem schützenden Dunkel eines Hauseingangs heraus sah Gregorius an ihm vorbei in die erleuchtete Wohnung hinein. Ein Sofa mit Polstern aus abgewetztem Gobelinstoff. Zwei Fauteuils, die nicht dazu paßten. Eine Vitrine mit Geschirr und kleinen, farbigen Figuren aus Porzellan. Ein Kruzifix an der Wand. Kein einziges Buch. Wie war es, dieser Mann zu sein?
    Nachdem der Mann das Fenster geschlossen und den Vorhang zugezogen hatte, trat Gregorius aus dem Hauseingang. Er hatte die Orientierung verloren und nahm die nächste Gasse nach unten. Er war noch nie jemandem auf diese Weise nachgegangen, mit dem Gedanken daran, wie es wäre, statt des eigenen dieses fremde Leben zu leben. Es war eine ganz neue Art von Neugierde, die da eben in ihm aufgebrochen war, und sie paßte zu der neuen Art von Wachheit, die er auf der Zugfahrt erlebt hatte und mit der er im Gare de Lyon in Paris ausgestiegen war, gestern oder wann es gewesen sein mochte.
    Ab und zu blieb er jetzt stehen und sah vor sich hin. Die alten Texte, seine alten Texte, sie waren doch auch voll von Figuren, die ein Leben lebten, und die Texte zu lesen und zu verstehen hatte doch auch stets geheißen, diese Leben zu lesen und zu verstehen. Warum also war jetzt alles so neu, wenn er es mit dem adligen Portugiesen zu tun hatte und dem hinkenden Mann von eben? Auf dem feuchten Kopfsteinpflaster der steilen Straße setzte er unsicher Fuß vor Fuß und atmete erleichtert auf, als er die Avenida da Liberdade wiedererkannte.
    Der Schlag traf ihn unvorbereitet, denn er hatte den Rollschuhfahrer nicht kommen hören. Er war ein Hüne, der Gregorius beim Überholen mit dem Ellbogen an der Schläfe traf und ihm die Brille herunterriß. Benommen und plötzlich ohne Sicht stolperte Gregorius ein paar Schritte und spürte zu seinem Entsetzen, wie er auf die Brille trat, die unter seinem Fuß knirschend zerbrach. Eine Welle von Panik überspülte ihn. Vergessen Sie die Ersatzbrille nicht , hörte er Doxiades am Telefon sagen. Minuten vergingen, bis sich sein Atem beruhigte. Dann kniete er sich auf die Straße und tastete nach den Glassplittern und den Bruchstücken des Gestells. Was er erspüren konnte, wischte er zusammen und knotete es ins Taschentuch. Langsam tastete er sich den Hauswänden entlang zum Hotel.
    Erschrocken sprang der Nachtportier auf, und als Gregorius nahe an den Spiegel der Empfangshalle heranging, sah er, daß ihm das Blut von der Schläfe tropfte. Im Aufzug preßte er das Taschentuch des Portiers gegen die Wunde, und dann rannte er durch den Flur, öffnete mit zitternden Fingern die Tür und stürzte zur Reisetasche. Er spürte Tränen der Erleichterung, als seine Hand das kühle Metalletui der Ersatzbrille zu fassen bekam. Er

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