Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
setzte die Brille auf, wusch das Blut ab und klebte das Pflaster, das ihm der Portier mitgegeben hatte, auf den Hautriß an der Schläfe. Es war halb drei. Am Flughafen nahm niemand das Telefon ab. Gegen vier schlief er ein.
8
Wäre Lissabon am nächsten Morgen nicht in dieses betörende Licht getaucht gewesen, dachte Gregorius später, hätten die Dinge vielleicht eine ganz andere Wendung genommen. Vielleicht wäre er dann zum Flughafen gefahren und hätte die nächste Maschine nach Hause genommen. Doch das Licht ließ keinen Versuch zu, sich nach rückwärts zu wenden. Sein Glanz machte alles Vergangene zu etwas sehr Entferntem, beinahe Unwirklichem, der Wille verlor unter seiner Leuchtkraft jeden Schatten des Gewesenen, und die einzige Möglichkeit, die man hatte, war, in die Zukunft aufzubrechen, worin sie auch bestehen mochte. Bern mit seinen Schneeflocken lag in weiter Ferne, und es fiel Gregorius schwer zu glauben, daß erst drei Tage vergangen sein sollten, seit er der rätselhaften Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke begegnet war.
Nach dem Frühstück wählte er die Nummer von José António da Silveira und bekam die Sekretärin an den Apparat. Ob sie ihm einen Augenarzt empfehlen könne, der Deutsch, Französisch oder Englisch spreche, fragte er. Nach einer halben Stunde rief sie zurück, richtete ihm Grüße von Silveira aus und nannte ihm eine Ärztin, zu der dessen Schwester ging, eine Frau, die lange an den Universitätskliniken von Coimbra und München gearbeitet hatte.
Die Praxis lag im Alfama-Viertel, dem ältesten Stadtteil hinter der Burg. Gregorius ging langsam durch den leuchtenden Tag und wich frühzeitig jedem aus, der ihn hätte anrempeln können. Manchmal blieb er stehen und rieb sich hinter den dicken Brillengläsern die Augen: Das also war nun Lissabon, die Stadt, in die er gefahren war, weil er beim Betrachten seiner Schüler sein Leben plötzlich vom Ende her gesehen hatte und weil ihm das Buch eines portugiesischen Arztes in die Hand gefallen war, dessen Worte klangen, als seien sie an ihn gerichtet.
Die Räume, die er eine Stunde später betrat, sahen gar nicht aus wie die Praxisräume einer Ärztin. Die dunkle Holztäfelung, die Originalgemälde und die dicken Teppiche ließen eher den Eindruck entstehen, als befinde man sich in der Wohnung einer noblen Familie, in der alles seine feste Form hatte und geräuschlos seinen Lauf nahm. Es überraschte Gregorius nicht, daß im Wartezimmer niemand war. Jemand, der in solchen Räumen lebte, brauchte keine Einnahmen von Patienten. Senhora Eça werde in wenigen Minuten kommen, hatte die Frau hinter der Empfangstheke gesagt. Nichts an ihr verriet die medizinische Assistentin. Das einzige, was auf geschäftliche Dinge hindeutete, war ein heller Bildschirm voller Namen und Zahlen. Gregorius dachte an die nüchternen, ein bißchen schäbigen Praxisräume von Doxiades und an die Arzthelferin mit ihrer schnippischen Art. Plötzlich hatte er das Gefühl, einen Verrat zu begehen, und als nun eine der hohen Türen aufging und die Ärztin erschien, war er froh, mit dem unvernünftigen Gefühl nicht länger allein bleiben zu müssen.
Doutora Mariana Conceição Eça war vor allem eine Frau mit großen, dunklen Augen, denen man vertrauen konnte. In flüssigem Deutsch, in dem ihr nur hin und wieder ein Fehler unterlief, begrüßte sie Gregorius als Freund von Silveira, und sie wußte auch bereits, worum es ging. Wie er auf die sonderbare Idee komme, sich für seine Aufregung wegen der kaputten Brille entschuldigen zu müssen, fragte sie. Selbstverständlich brauche jemand, der so kurzsichtig sei wie er, das Gefühl, eine Brille in Reserve zu haben.
Mit einem Schlag wurde Gregorius vollkommen ruhig. Er spürte, wie er tief im Sessel vor ihrem Schreibtisch versank, und fühlte den Wunsch, nie mehr aufstehen zu müssen. Die Frau schien unbegrenzt Zeit für ihn zu haben, Gregorius hatte dieses Gefühl noch bei keinem Arzt gehabt, auch nicht bei Doxiades, es war unwirklich, beinahe wie im Traum. Er hatte damit gerechnet, daß sie die Ersatzbrille vermessen, die üblichen Sehtests machen und ihn dann mit einem Rezept zum Optiker schicken würde. Statt dessen ließ sie ihn erst einmal die Geschichte seiner Kurzsichtigkeit erzählen, Etappe für Etappe, Sorge um Sorge. Als er ihr am Ende die Brille reichte, sah sie ihn prüfend an.
»Sie sind ein Mann, der nicht gut schläft«, sagte sie.
Dann bat sie ihn in den anderen Teil des Raums zu den
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