Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Suche nach einer Buchhandlung gemacht, wo er solche Texte würde finden können. Doch es war Sonntag, und das einzige, was er fand, war eine geschlossene kirchliche Buchhandlung mit Büchern im Schaufenster, die griechische und hebräische Titel trugen. Er hatte die Stirn an die nebelfeuchte Scheibe gelehnt und gespürt, wie ihn wieder einmal die Versuchung überkam, zum Flughafen zu fahren und mit der nächsten Maschine nach Zürich zu fliegen. Erleichtert hatte er wahrgenommen, daß es ihm gelang, den bedrängenden Wunsch wie ein anbrandendes und wieder zurückweichendes Fieber zu erleben und geduldig vorübergehen zu lassen, und schließlich war er langsam zur Bar in der Nähe des blauen Hauses zurückgegangen.
Jetzt holte er Prados Buch aus der Tasche seiner neuen Jacke und betrachtete das kühne, unerschrockene Gesicht des Portugiesen. Ein Arzt, der seinen Beruf mit steinerner Konsequenz ausgeübt hatte. Ein Widerstandskämpfer, der unter Lebensgefahr eine Schuld abzutragen versuchte, die keine war. Ein Goldschmied der Worte, dessen tiefste Leidenschaft gewesen war, die schweigsamen Erfahrungen des menschlichen Lebens ihrer Stummheit zu entreißen.
Plötzlich überfiel Gregorius die Angst, es könnte inzwischen jemand ganz anderes in dem blauen Haus wohnen. Hastig legte er die Münzen für den Kaffee auf die Theke und ging mit raschen Schritten hinüber zu dem Haus. Vor der blauen Tür atmete er zweimal tief ein und ließ die Luft ganz langsam aus der Lunge entweichen. Dann drückte er auf die Klingel.
Ein schepperndes Läuten, das klang, als käme es aus mittelalterlicher Ferne, hallte übertrieben laut durch das Haus. Nichts geschah. Kein Licht, keine Schritte. Wiederum zwang sich Gregorius zur Ruhe, dann klingelte er ein zweites Mal. Nichts. Er drehte sich um und lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Er dachte an seine Wohnung in Bern. Er war froh, daß es vorbei war. Langsam schob er Prados Buch in die Manteltasche und berührte dabei das kühle Metall des Wohnungsschlüssels. Dann löste er sich von der Tür und schickte sich an wegzugehen.
In diesem Augenblick hörte er innen Schritte. Jemand kam die Treppe herunter. Hinter einem Fenster war ein Lichtschein zu erkennen. Die Schritte näherten sich der Tür.
»Quem é?« rief eine dunkle, heisere Frauenstimme.
Gregorius wußte nicht, was er sagen sollte. Schweigend wartete er. Sekunden verrannen. Dann wurde ein Schlüssel im Schloß gedreht, und die Tür ging auf.
ZWEITER TEIL
Die Begegnung
13
Die große, ganz in Schwarz gekleidete Frau, die vor ihm stand, schien in ihrer strengen, nonnenhaften Schönheit einer griechischen Tragödie zu entstammen. Das bleiche, hagere Gesicht wurde von einem gehäkelten Kopftuch umrahmt, das sie mit einer Hand unter dem Kinn zusammenhielt, einer schlanken, knochigen Hand mit hervortretenden, dunklen Venen, die deutlicher als die Gesichtszüge das hohe Alter verrieten. Aus tiefliegenden Augen, die wie schwarze Diamanten leuchteten, musterte sie Gregorius mit bitterem Blick, der von Entbehrungen sprach, von Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, mit einem Blick, der wie eine mosaische Mahnung an all diejenigen war, deren Leben darin bestand, sich widerstandslos treiben zu lassen. Diese Augen konnten in Flammen stehen, dachte Gregorius, wenn sich jemand dem stummen, unbeugsamen Willen dieser Frau entgegenstellte, die sich kerzengerade hielt und den Kopf ein bißchen höher trug, als es ihre Größe eigentlich erlaubte. Eine eisige Glut ging von ihr aus, und Gregorius hatte keine Ahnung, wie er vor ihr bestehen sollte. Er wußte nicht einmal mehr, was »Guten Tag« auf portugiesisch hieß.
»Bonjour« , sagte er heiser, als ihn die Frau auch weiterhin nur stumm anblickte, und dann holte er aus der Manteltasche Prados Buch, schlug es beim Portrait auf und zeigte es ihr.
»Ich weiß, daß dieser Mann, ein Arzt, hier gelebt und gearbeitet hat«, fuhr er auf französisch fort. »Ich… ich wollte sehen, wo er gewohnt hat, und mit jemandem sprechen, der ihn gekannt hat. Es sind so eindrucksvolle Sätze, die er da geschrieben hat. Weise Sätze. Wundervolle Sätze. Ich möchte wissen, wie der Mann war, der solche Sätze schreiben konnte. Wie es war, mit ihm zusammenzusein.«
Die Veränderung in dem strengen, weißen Gesicht der Frau, das durch das Schwarz des Kopftuchs zu einem matten Leuchten gebracht wurde, war kaum wahrzunehmen. Nur jemand mit der besonderen Wachheit, die Gregorius in diesem Augenblick
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