Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Flüchtigkeit? Doch alles, was uns Beständigkeit, Vertrautheit und intimes Wissen vorgaukelt: Ist es nicht eine zur Beruhigung erfundene Täuschung, mit der wir die flackernde, verstörende Flüchtigkeit zu überdecken und zu bannen suchen, weil es unmöglich wäre, ihr in jedem Augenblick standzuhalten? Ist nicht jeder Anblick eines Anderen und jeder Blickwechsel doch wie die gespenstisch kurze Begegnung von Blicken zwischen Reisenden, die aneinander vorbeigleiten, betäubt von der unmenschlichen Geschwindigkeit und der Faust des Luftdrucks, die alles zum Erzittern und Klirren bringt? Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab, wie in der rasenden Begegnung des Nachts, und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen, Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften? Ist es nicht in Wahrheit so, daß nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?
Wie war es gewesen, hatte Gregorius gedacht, die Schwester von jemandem zu sein, aus dem eine Einsamkeit von solch schwindelerregender Tiefe sprach? Von jemandem, der in seinem Nachdenken eine derart schonungslose Konsequenz an den Tag gelegt hatte, ohne daß seine Worte deshalb verzweifelt oder auch nur aufgeregt geklungen hätten? Wie war es gewesen, ihm zu assistieren, die Spritze zu reichen und beim Verbinden zu helfen? Was er schreibend über die Ferne und Fremdheit zwischen den Menschen dachte: Was hatte es für die Atmosphäre in dem blauen Haus bedeutet? Hatte er es ganz in sich verborgen gehalten, oder war das Haus der Ort gewesen, der einzige Ort, an dem er zugelassen hatte, daß diese Gedanken auch nach außen traten? In der Art etwa, wie er von Raum zu Raum ging, ein Buch in die Hand nahm und entschied, welche Musik er hören wollte? Welche Klänge waren es gewesen, die ihm zu den einsamen Gedanken zu passen schienen, die in ihrer Klarheit und Härte wie Gebilde aus Glas anmuteten? Hatte er nach Klängen gesucht, die wie eine Bestätigung waren, oder hatte er Melodien und Rhythmen gebraucht, die wie Balsam waren, nicht einlullend und verschleiernd zwar, aber doch besänftigend?
Mit diesen Fragen im Sinn war Gregorius gegen Morgen noch einmal in einen leichten Schlaf geglitten und hatte vor einer unwirklich schmalen, blauen Tür gestanden, in sich den Wunsch zu klingeln und zugleich die Gewißheit, daß er keine Ahnung hatte, was er der öffnenden Frau würde sagen können. Nach dem Aufwachen war er in den neuen Kleidern und mit der neuen Brille zum Frühstück gegangen. Die Kellnerin hatte gestutzt, als sie sein verändertes Aussehen bemerkte, und dann war ein Lächeln über ihr Gesicht gehuscht. Und nun war er an diesem grauen, nebligen Sonntagmorgen unterwegs, um das blaue Haus zu suchen, von dem der alte Coutinho gesprochen hatte.
Er hatte erst wenige Gassen in der Oberstadt abgeschritten, da sah er den Mann, dem er am ersten Abend gefolgt war, rauchend ans Fenster treten. Jetzt, bei Tageslicht, wirkte das Haus noch schmaler und schäbiger als damals. Das Innere des Zimmers lag im Schatten, doch Gregorius erhaschte einen Blick auf den Gobelinstoff des Sofas, die Vitrine mit den farbigen Porzellanfiguren und das Kruzifix. Er blieb stehen und suchte den Blick des Mannes.
»Uma casa azul?« fragte er.
Der Mann hielt die Hand an die Ohrmuschel, und Gregorius wiederholte die Frage. Ein Schwall von Worten, die er nicht verstand, war die Antwort, begleitet von Bewegungen der Hand mit der Zigarette. Während der Mann sprach, trat eine gebeugte, greisenhafte Frau neben ihn.
»O consultório azul?« fragte Gregorius jetzt.
»Sim!« rief die Frau mit krächzender Stimme, und dann noch einmal: »Sim!«
Aufgeregt gestikulierte sie mit ihren spindeldürren Armen und runzligen Händen, und nach einer Weile begriff Gregorius, daß sie ihn hereinwinkte. Zögernd betrat er das Haus, in dem es nach Moder und verbranntem Öl roch. Es kam ihm vor, als müsse er eine dicke Wand von abstoßenden Gerüchen durchstoßen, um zu der Wohnungstür zu gelangen, hinter der der Mann wartete, eine neue Zigarette zwischen den Lippen. Hinkend führte er Gregorius ins Wohnzimmer und bat ihn mit unverständlichem Genuschel und einer vagen Handbewegung, auf dem gobelinbezogenen Sofa Platz zu nehmen.
In der nächsten halben Stunde versuchte Gregorius mühsam, sich in den meist unverständlichen Worten und vieldeutigen Gesten der beiden Menschen zurechtzufinden, die ihm zu erklären versuchten, wie es vor vierzig Jahren gewesen war,
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