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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gesprochen, von seinem Leiden, seiner Hingabe, seiner Leidenschaft und seinem Tod. Von all den Dingen, die – daran ließen ihre Worte und ihr Mienenspiel keinen Zweifel – das Wichtigste in ihrem Leben gewesen waren. Und sie hatte davon so unvermittelt gesprochen, als habe sie einen selbstverständlichen Anspruch darauf, daß sich Gregorius in einer blitzartigen, unirdischen Metamorphose, die außerhalb aller Zeit zu verlaufen hatte, in einen Bewohner ihrer Vorstellungswelt und einen allwissenden Zeugen ihrer Erinnerungen verwandle. Er war einer, der das Buch mit dem geheimnisvollen Signum der Cedros vermelhos , der roten Zedern, bei sich trug, und das hatte genügt, um ihm Einlaß in den geheiligten Bezirk ihrer Gedanken zu verschaffen. Wie viele Jahre hatte sie darauf gewartet, daß einer wie er vorbeikäme, einer, zu dem sie von dem toten Bruder sprechen könnte? 1973 hatte als Todesjahr auf dem Grabstein gestanden. Also hatte Adriana einunddreißig Jahre lang allein in diesem Hause gelebt, einunddreißig Jahre allein mit den Erinnerungen und der Leere, die der Bruder hinterlassen hatte.
    Bisher hatte sie das Kopftuch unter dem Kinn zusammengehalten, als gelte es, etwas zu verbergen. Jetzt nahm sie die Hand weg, das gehäkelte Tuch teilte sich und gab den Blick auf ein schwarzes Samtband frei, das den Hals umschloß. Diesen Anblick des sich teilenden Tuchs, hinter dem das breite Band über den weißen Falten des Halses sichtbar wurde, sollte Gregorius nie mehr vergessen, er gerann zu einem feststehenden, detailgenauen Bild und wurde später, als er wußte, was das Band verbarg, immer mehr zu einer Ikone seiner Erinnerung, zu der auch die Handbewegung gehörte, mit der Adriana prüfte, ob das Band noch da war und richtig saß, eine Bewegung, die ihr – so schien es – mehr zustieß, als daß sie sie vollzogen hätte, zugleich aber eine Bewegung, in der sie ganz aufging und die mehr über sie zu sagen schien als alles, was sie planvoll und mit Bewußtsein tat.
    Das Tuch war ein Stück weit nach hinten gerutscht, und nun sah Gregorius ihr ergrautes Haar, in dem es noch vereinzelte Strähnen gab, die an das frühere Schwarz erinnerten. Adriana griff nach dem gleitenden Tuch, hob es an und zog es in einer Haltung der Verlegenheit nach vorn, hielt einen Moment inne und riß es sich dann mit einer trotzigen Bewegung vom Kopf. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment, und der ihre schien zu sagen: Ja, ich bin alt geworden . Sie neigte den Kopf nach vorn, eine gelockte Strähne glitt ihr über die Augen, der Oberkörper fiel in sich zusammen, und dann fuhren die Hände mit den dunkelvioletten Venen langsam und verloren über das Tuch in ihrem Schoß.
    Gregorius deutete auf Prados Buch, das er auf den Tisch gelegt hatte. »Ist das alles, was Amadeu geschrieben hat?«
    Die wenigen Worte wirkten Wunder. Alles Erschöpfte und Erloschene fiel von Adriana ab, sie richtete sich auf, warf den Kopf nach hinten, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und sah ihn dann an. Es war das erste Mal, daß auf ihren Zügen ein Lächeln erschien, spitzbübisch und verschwörerisch, es ließ sie zwanzig Jahre jünger erscheinen.
    »Venha, Senhor.« Kommen Sie.Alles Herrische war aus ihrer Stimme verschwunden, die Worte klangen nicht wie ein Befehl, nicht einmal wie eine Aufforderung, eher wie die Ankündigung, daß sie ihm etwas zeigen, ihn in etwas Verborgenes, Geheimes einführen würde, und es paßte zu der versprochenen Intimität und Komplizenschaft, daß sie anscheinend vergessen hatte, daß er kein Portugiesisch sprach.
    Sie führte ihn über den Flur zur zweiten Treppe, die hinauf zum Dachgeschoß ging, und nahm keuchend Stufe nach Stufe. Vor der einen der beiden Türen blieb sie stehen. Man konnte es als ein bloßes Ausruhen deuten, doch als Gregorius seine Erinnerungsbilder später ordnete, war er sicher, daß es auch ein Zögern gewesen war, ein Zweifeln, ob sie dem Fremden dieses Allerheiligste wirklich zeigen sollte. Schließlich drückte sie die Klinke, sanft wie bei einem Besuch im Krankenzimmer, und die Behutsamkeit, mit der sie die Tür zunächst nur einen Spaltbreit öffnete, um sie dann langsam ganz aufzustoßen, ließ den Eindruck entstehen, als sei sie während des Treppensteigens um mehr als dreißig Jahre in der Zeit zurückgereist und beträte den Raum in der Erwartung, Amadeu darin anzutreffen, schreibend und nachdenkend, vielleicht auch schlafend.
    Ganz hinten im Bewußtsein, an seinem äußersten Rande

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