Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
als Amadeu de Prado die Leute aus dem Viertel behandelt hatte. Es lag Verehrung in ihren Stimmen, eine Verehrung, wie man sie jemandem entgegenbringt, der weit über einem selbst steht. Doch daneben füllte noch ein anderes Gefühl den Raum, das Gregorius nur allmählich als eine Scheu erkannte, wie sie einem lange zurückliegenden Vorwurf entspringt, den man lieber leugnen möchte, ohne ihn jedoch ganz aus dem Gedächtnis tilgen zu können. Jetzt mieden ihn die Leute. Das hat ihm das Herz gebrochen , hörte er Coutinho sagen, nachdem er erzählt hatte, wie Prado Rui Luís Mendes, den Schlächter von Lissabon, gerettet hatte.
Jetzt zog der Mann ein Hosenbein hoch und zeigte Gregorius eine Narbe. » Ele fez isto «, hat er gemacht, sagte er und fuhr mit der nikotingelben Fingerspitze darüber. Die Frau rieb sich mit ihren runzligen Fingern die Schläfen und machte dann die Geste des Davonfliegens: Prado hatte ihre Kopfschmerzen zum Verschwinden gebracht. Und dann zeigte auch sie eine kleine Narbe an einem Finger, wo wahrscheinlich eine Warze gewesen war.
Wenn sich Gregorius später manchmal fragte, was es gewesen war, das den Ausschlag gegeben und ihn schließlich an der blauen Tür hatte läuten lassen, so kamen ihm stets diese Gesten der beiden Menschen in den Sinn, an deren Körpern der verehrte, später verfemte und schließlich von neuem verehrte Arzt Spuren hinterlassen hatte. Es war gewesen, als wären seine Hände von neuem lebendig geworden.
Jetzt ließ sich Gregorius den Weg zu Prados ehemaliger Praxis beschreiben und verließ die beiden dann. Kopf an Kopf blickten sie ihm aus dem Fenster nach, und es kam ihm vor, als läge Neid in ihren Blicken, ein paradoxer Neid darüber, daß er etwas tun konnte, was ihnen nicht mehr möglich war: Amadeu de Prado ganz neu kennenzulernen, indem er sich den Weg in seine Vergangenheit hinein bahnte.
War es möglich, daß der beste Weg, sich seiner selbst zu vergewissern, darin bestand, einen anderen kennen und verstehen zu lernen? Einen, dessen Leben ganz anders verlaufen war und eine ganz andere Logik besessen hatte als das eigene? Wie paßte die Neugierde auf ein anderes Leben zu dem Bewußtsein, daß die eigene Zeit ablief?
Gregorius stand an der Theke einer kleinen Bar und trank einen Kaffee. Es war schon das zweite Mal, daß er hier stand. Vor einer Stunde war er auf die Rua Luz Soriano gestoßen und hatte nach wenigen Schritten vor Prados blauer Praxis gestanden, einem dreistöckigen Haus, das einmal wegen der blauen Kacheln insgesamt blau wirkte, aber viel mehr noch, weil sämtliche Fenster von hohen Rundbögen überwölbt wurden, die mit leuchtendem Ultramarin ausgemalt waren. Der Anstrich war alt, die Farbe bröckelte, und es gab feuchte Stellen, an denen schwarzes Moos wucherte. Auch an den schmiedeeisernen Gittern unterhalb der Fenster bröckelte die blaue Farbe. Nur die blaue Eingangstür hatte einen makellosen Anstrich, als habe jemand sagen wollen: Sie ist, worauf es ankommt.
Die Klingel war ohne Namensschild. Mit pochendem Herzen hatte Gregorius die Tür mit dem Messingklopfer betrachtet. Als läge meine ganze Zukunft hinter dieser Tür , hatte er gedacht. Dann war er ein paar Häuser weiter in die Bar gegangen und hatte gegen das bedrohliche Gefühl angekämpft, daß er dabei war, sich zu entgleiten. Er hatte auf die Uhr gesehen: Vor sechs Tagen war es gewesen, daß er um diese Zeit im Klassenzimmer den feuchten Mantel vom Haken genommen hatte und aus seinem so sicheren, übersichtlichen Leben davongelaufen war, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte in die Tasche dieses Mantels gegriffen und nach dem Schlüssel zu seiner Berner Wohnung getastet. Und plötzlich hatte ihn, so heftig und körperlich spürbar wie ein Anfall von Heißhunger, das Bedürfnis überfallen, in einem griechischen oder hebräischen Text zu lesen; die fremden, schönen Buchstaben vor sich zu sehen, die für ihn auch nach vierzig Jahren nichts von ihrer orientalischen, märchenhaften Eleganz verloren hatten; sich zu vergewissern, daß er im Laufe der sechs verwirrenden Tage nichts von der Fähigkeit verloren hatte, alles zu verstehen, was sie ausdrücken sollten.
Im Hotel lag das Neue Testament, griechisch und portugiesisch, das Coutinho ihm geschenkt hatte; doch das Hotel war zu weit, es ging darum, daß er hier und jetzt lesen konnte, unweit des blauen Hauses, das ihn zu verschlucken drohte, noch bevor sich die Tür geöffnet hatte. Hastig hatte er bezahlt und sich auf die
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