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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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besaß, konnte erkennen, daß sich die straffen Züge ein kleines bißchen – eine Winzigkeit nur – entspannten und der Blick eine Spur von seiner abweisenden Schärfe verlor. Doch sie blieb stumm, und die Zeit begann sich zu dehnen.
    »Pardonnez-moi, je ne voulais pas…« , begann Gregorius jetzt, machte zwei Schritte von der Tür weg und nestelte an seiner Manteltasche, die mit einemmal zu klein schien, um das Buch wieder aufzunehmen. Er wandte sich zum Gehen.
    »Attendez!« sagte die Frau. Die Stimme klang jetzt weniger gereizt und wärmer als vorhin hinter der Tür. Und in dem französischen Wort schwang der gleiche Akzent wie in der Stimme der namenlosen Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke. Trotzdem klang es wie ein Befehl, dem man sich nicht zu widersetzen traute, und Gregorius dachte an Coutinhos Äußerung über die herrische Art, mit der Adriana die Patienten behandelt hatte. Er wandte sich ihr wieder zu, das sperrige Buch immer noch in der Hand.
    »Entrez« , sagte die Frau, trat von der Tür zurück und wies mit der Hand zu der Treppe nach oben. Sie schloß die Tür mit einem großen Schlüssel ab, der aus einem anderen Jahrhundert zu kommen schien, und folgte ihm dann. Als sie oben die Hand mit den weißen Knöcheln vom Treppengeländer löste und an ihm vorbei in den Salon ging, hörte er sie keuchen, und es streifte ihn ein herber Duft, der ebensogut von einer Medizin wie von einem Parfum herrühren konnte.
    Einen Salon wie diesen hatte Gregorius noch nie gesehen, nicht einmal im Film. Er erstreckte sich über die gesamte Tiefe des Hauses und schien kein Ende zu nehmen. Der makellos glänzende Parkettboden bestand aus Rosetten, in denen sich viele verschiedene Holzarten und Tönungen abwechselten, und wenn der Blick bei der letzten angelangt schien, so kam dahinter noch eine. Am Ende dann ging der Blick hinaus in alte Bäume, die jetzt, Ende Februar, ein Gewirr von schwarzen Ästen darboten, die hoch in den bleigrauen Himmel hinaufragten. In der einen Ecke stand ein runder Tisch mit französischen Stilmöbeln – einem Sofa und drei Sesseln, die Sitzflächen aus olivgrünem, silbrig schimmerndem Samt, die geschwungenen Lehnen und Beine aus rötlichem Holz –, in einer anderen eine schwarzglänzende Standuhr, deren goldenes Pendel stillstand, die Zeiger waren bei sechs Uhr dreiundzwanzig stehengeblieben. Und in der Ecke beim Fenster stand ein Flügel, bis auf den Klaviaturdeckel hinunter zugedeckt mit einer schweren Decke aus schwarzem Brokat, durchwirkt mit leuchtenden Gold- und Silberfäden.
    Was Gregorius jedoch noch mehr beeindruckte als alles andere, waren die endlosen Bücherwände, die in die ockerfarbenen Wände eingelassen waren. Sie schlossen oben ab mit kleinen Jugendstilleuchten, und darüber wölbte sich von Wand zu Wand eine Kassettendecke, die den Ockerton der Wände wiederaufnahm und mit geometrischen Mustern aus dunklem Rot mischte. Wie eine Klosterbibliothek , dachte Gregorius, wie die Bibliothek eines einstmaligen Zöglings von klassischer Bildung aus begütertem Hause. Er traute sich nicht, die Wände entlangzugehen, doch sein Blick fand rasch die griechischen Klassiker in den dunkelblauen, goldbeschrifteten Bänden aus Oxford, weiter hinten Cicero, Horaz, die Schriften der Kirchenväter, die obras completas von San Ignacio. Er war noch keine zehn Minuten in diesem Haus und wünschte bereits, es nie wieder verlassen zu müssen. Es mußte einfach die Bibliothek von Amadeu de Prado sein. War sie es?
    »Amadeu liebte den Raum, die Bücher. ›Ich habe so wenig Zeit, Adriana‹, sagte er oft, ›viel zu wenig Zeit zum Lesen; vielleicht hätte ich doch Priester werden sollen.‹ Aber er wollte, daß die Praxis immer offen war, von früh bis spät. ›Wer Schmerzen hat oder Angst, kann nicht warten‹, pflegte er zu sagen, wenn ich seine Erschöpfung sah und ihn zu bremsen versuchte. Gelesen und geschrieben hat er nachts, wenn er nicht schlafen konnte. Oder vielleicht konnte er nicht schlafen, weil er das Gefühl hatte, lesen, schreiben, nachdenken zu müssen, ich weiß es nicht. Sie war ein Fluch, seine Schlaflosigkeit, und ich bin sicher: Ohne dieses Leiden und ohne seine Rastlosigkeit, seine ewige, atemlose Suche nach Worten, hätte sein Gehirn noch viel länger mitgemacht. Vielleicht lebte er noch. Er wäre in diesem Jahr vierundachtzig geworden, am 20. Dezember.«
    Ohne mit einem einzigen Wort zu fragen, wer er sei, und ohne sich ihm vorzustellen, hatte sie von ihrem Bruder

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