Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
und ein bißchen abgedunkelt, streifte Gregorius der Gedanke, daß er es mit einer Frau zu tun hatte, die auf einem schmalen Grat wanderte, der ihr gegenwärtiges, sichtbares Leben von einem anderen trennte, das in seiner Unsichtbarkeit und zeitlichen Ferne für sie viel wirklicher war, und daß es nur eines schwachen Stoßes, fast nur eines Lufthauchs bedürfte, um sie abstürzen und unwiderruflich in der Vergangenheit ihres Lebens mit dem Bruder verschwinden zu lassen.
Tatsächlich war in dem großen Raum, den sie nun betraten, die Zeit stehengeblieben. Er war mit asketischer Kargheit eingerichtet. Am einen Ende, mit der Stirnseite zur Wand, stand ein Schreibtisch mit Sessel, am anderen Ende ein Bett mit einem kleinen Teppich davor, der an einen Gebetsteppich erinnerte, in der Mitte ein Lesesessel mit Stehlampe, daneben Berge von unordentlich geschichteten Büchern auf den nackten Dielen. Sonst nichts. Das Ganze war ein Sanktuarium, ein Altarraum des Gedenkens an Amadeu Inácio de Almeida Prado, Arzt, Widerstandskämpfer und Goldschmied der Worte. Es herrschte die kühle, beredte Stille einer Kathedrale, das tonlose Rauschen eines Raums, der angefüllt ist mit gefrorener Zeit.
Gregorius blieb bei der Tür stehen; das war nicht ein Raum, in dem ein Fremder einfach umhergehen konnte. Und auch wenn Adriana sich nun zwischen den wenigen Gegenständen bewegte, war es anders als ein gewöhnliches Bewegen. Nicht, daß sie auf Zehenspitzen gegangen wäre oder ihr Gang etwas Affektiertes gehabt hätte. Aber ihre langsamen Schritte hatten etwas Ätherisches an sich, dachte Gregorius, etwas Entmaterialisiertes und beinahe Raum- und Zeitloses. Das galt auch für die Bewegungen von Armen und Händen, als sie nun zu den Möbelstücken ging und sanft, fast berührungslos darüber strich.
Als erstes tat sie das mit dem Schreibtischstuhl, der mit seiner gerundeten Sitzfläche und der geschwungenen Rückenlehne zu den Stühlen im Salon paßte. Er stand schief zum Pult, als wäre jemand in aller Eile von ihm aufgestanden und hätte ihn zurückgestoßen. Unwillkürlich wartete Gregorius darauf, daß Adriana ihn geraderückte, und erst als sie zärtlich über alle Kanten gefahren war, ohne etwas zu verändern, verstand er: Die ungerade Position des Stuhls war diejenige, in der Amadeu ihn vor dreißig Jahren und zwei Monaten zurückgelassen hatte, und also eine Stellung, die man um keinen Preis verändern durfte, denn das wäre gewesen, als versuchte einer in prometheischer Anmaßung, die Vergangenheit ihrer Unverrückbarkeit zu entreißen oder die Naturgesetze umzustürzen.
Was für den Stuhl galt, galt auch für die Gegenstände auf dem Pult, auf dem sich ein sanft ansteigender Aufsatz befand, damit man besser lesen und schreiben konnte. Darauf lag in abenteuerlicher Schieflage ein riesiges, in der Mitte aufgeschlagenes Buch und vor ihm ein Stoß Blätter, das oberste, soweit Gregorius mit angestrengtem Blick ausmachen konnte, nur mit wenigen Worten beschrieben. Sanft strich Adriana mit dem Handrücken über das Holz und berührte jetzt die Tasse aus bläulichem Porzellan, die auf einem kupferroten Tablett stand, zusammen mit einer Zuckerdose voll mit Kandiszucker und einem überfüllten Aschenbecher. Waren diese Dinge ebenso alt? Dreißigjähriger Kaffeesatz? Zigarettenasche, älter als ein Vierteljahrhundert? Die Tinte in der offenen Füllfeder mußte zu feinstem Staub zerfallen oder zu einem schwarzen Klumpen getrocknet sein. Würde die Glühbirne in der reich verzierten Schreibtischlampe mit dem smaragdgrünen Schirm noch brennen?
Es gab etwas, das Gregorius verwunderte, doch es dauerte, bis er es zu fassen bekam: Es lag kein Staub auf den Dingen. Er schloß die Augen, und nun war Adriana nur noch ein Geist mit hörbaren Umrissen, der durch den Raum glitt. Hatte dieser Geist hier regelmäßig Staub gewischt, an elftausend Tagen? Und war dabei grau geworden?
Als er die Augen wieder öffnete, stand Adriana vor einem turmhohen Bücherstapel, der aussah, als könne er jederzeit einstürzen. Sie blickte auf ein dickes, großformatiges Buch hinunter, das oben lag und ein Bild des Gehirns auf dem Umschlag hatte.
»O cérebro, sempre o cérebro« , sagte sie leise und vorwurfsvoll. Das Gehirn, immer das Gehirn. »Porquê não disseste nada?« Warum hast du nichts gesagt?
Jetzt lag Ärger in ihrer Stimme, resignierter Ärger, abgeschliffen von der Zeit und dem Schweigen, mit dem der tote Bruder seit Jahrzehnten darauf antwortete.
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