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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Er hatte ihr nichts von dem Aneurysma gesagt, dachte Gregorius, nichts von seiner Angst und dem Bewußtsein, daß es jederzeit zu Ende sein konnte. Erst durch die Aufzeichnungen hatte sie davon erfahren. Und war, durch alle Trauer hindurch, wütend gewesen, daß er ihr die Intimität dieses Wissens verweigert hatte.
    Jetzt blickte sie hoch und sah Gregorius an, als habe sie ihn vergessen gehabt. Nur langsam fand ihr Geist wieder in die Gegenwart zurück.
    »Ach so, ja, kommen Sie«, sagte sie auf französisch und ging mit Schritten, die fester waren als vorhin, zurück zum Schreibtisch, wo sie zwei Schubladen aufzog. Darin lagen dicke Stöße von Blättern, zusammengepreßt zwischen Kartondeckeln und mit rotem Band mehrfach verschnürt.
    »Begonnen hat er damit kurz nach Fátimas Tod. ›Es ist ein Kampf gegen die innere Lähmung‹, sagte er, und einige Wochen später: ›Warum bloß habe ich nicht früher damit begonnen! Man ist nicht richtig wach, wenn man nicht schreibt. Und man hat keine Ahnung, wer man ist. Ganz zu schweigen davon, wer man nicht ist.‹ Niemand durfte es lesen, auch ich nicht. Er zog den Schlüssel ab und trug ihn stets bei sich. Er war… er konnte sehr mißtrauisch sein.«
    Sie schob die Schubladen zu. »Ich möchte jetzt allein sein«, sagte sie abrupt, beinahe feindselig, und während sie die Treppen hinunterstiegen, sagte sie kein Wort mehr. Als sie die Haustür aufgeschlossen hatte, stand sie stumm da, eckig und steif. Sie war keine Frau, der man die Hand gab.
    »Au revoir et merci«, sagte Gregorius und schickte sich zögernd an zu gehen.
    »Wie heißen Sie?«
    Die Frage kam lauter als nötig, ein bißchen klang sie wie ein heiseres Bellen, das ihn an Coutinho erinnerte. Sie wiederholte den Namen: Gregoriusch .
    »Wo wohnen Sie?«
    Er nannte ihr das Hotel. Ohne ein Wort des Abschieds schloß sie die Tür und drehte den Schlüssel.

14
     
    Auf dem Tejo spiegelten sich die Wolken. In rasendem Tempo jagten sie hinter den sonnenglitzernden Flächen her, glitten darüber, verschluckten das Licht und ließen es statt dessen an anderer Stelle mit stechendem Glanz aus dem Schattendunkel hervorbrechen. Gregorius nahm die Brille ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der fiebrige Wechsel zwischen gleißender Helligkeit und bedrohlichem Schatten, der mit ungewohnter Schärfe durch die neuen Gläser drang, war eine Marter für die schutzlosen Augen. Vorhin im Hotel, nachdem er aus einem leichten und unruhigen Mittagsschlaf aufgewacht war, hatte er es wieder mit der alten Brille versucht. Doch inzwischen fühlte sich ihre kompakte Schwere störend an, es war, als müsse er mit dem Gesicht eine mühsame Last durch die Welt schieben.
    Unsicher und sich selbst ein bißchen fremd, hatte er lange auf der Bettkante gesessen und versucht, die verwirrenden Erlebnisse des Vormittags zu entziffern und zu ordnen. Im Traum, durch den eine stumme Adriana mit einem Gesicht von marmorner Blässe gegeistert war, hatte die Farbe Schwarz vorgeherrscht, ein Schwarz, das die befremdliche Eigenschaft gehabt hatte, den Gegenständen – allen Gegenständen – anzuhaften, ganz gleich, was sie sonst für Farben hatten und wie sehr sie in diesen anderen Farben leuchteten. Das Samtband um Adrianas Hals, das bis zum Kinn hinaufreichte, schien sie zu würgen, denn sie zerrte unablässig daran. Dann wieder faßte sie sich mit beiden Händen an den Kopf, und es war weniger der Schädel als das Gehirn, das sie damit zu schützen suchte. Türme von Büchern waren, einer nach dem anderen, eingestürzt, und für einen Moment, in dem sich gespannte Erwartung mit Beklommenheit und dem schlechten Gewissen des Voyeurs mischte, hatte Gregorius an Prados Schreibtisch gesessen, auf dem ein Meer von Versteinerungen lag und mittendrin ein halb beschriebenes Blatt, dessen Zeilen blitzschnell bis zur Unleserlichkeit ausblichen, wenn er seinen Blick darauf richtete.
    Während er sich dann erinnernd mit diesen Traumbildern beschäftigt hatte, war es ihm manchmal vorgekommen, als habe der Besuch in der blauen Praxis gar nicht wirklich stattgefunden – als sei das Ganze nur ein besonders lebhafter Traum gewesen, innerhalb dessen – als eine Episode sich überschlagender Täuschung – ein Unterschied zwischen Wachen und Träumen vorgetäuscht wurde. Dann hatte auch er sich an den Kopf gefaßt, und wenn er das Gefühl für die Wirklichkeit seines Besuchs wiedergewonnen und die Gestalt von Adriana, aller traumhaften Zusätze entkleidet,

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