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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Meldung kam am 20. Juni ganz hinten im Lokalteil:
     
    Heute gab das Justizministerium bekannt, daß Alexandre Horácio de Almeida Prado, der dem Obersten Gericht viele Jahre als hervorragender Richter gedient hat, letzte Woche an den Folgen einer langen Krankheit gestorben ist.
     
    Daneben ein Bild des Richters, überraschend groß, die Größe paßte nicht zur Knappheit der Meldung. Ein strenges Gesicht mit Kneifer und Brillenkette, Spitzbart und Schnurrbart, eine hohe Stirn, nicht weniger hoch als die des Sohnes, angegrautes, aber immer noch volles Haar, weißer Stehkragen mit abgeknickten Ecken, schwarzer Binder, eine sehr weiße Hand, auf die er das Kinn stützte, alles andere verlor sich im dunklen Hintergrund. Ein geschickt aufgenommenes Foto, keine Spur von der Qual des gekrümmten Rückens, auch keine von der Gicht in den Händen, Kopf und Hand tauchten still und geisterhaft aus der Finsternis auf, weiß und gebieterisch, Einspruch oder gar Widerspruch waren unmöglich, ein Bild, das eine Wohnung, ein ganzes Haus in seinen Bann schlagen, mit einem Bann überziehen und mit seiner erstickenden Autorität vergiften konnte. Ein Richter. Ein Richter, der gar nichts anderes hätte sein können als ein Richter. Ein Mann von eiserner Strenge und steinerner Konsequenz, auch sich selbst gegenüber. Ein Mann, der sich selbst richten würde, hätte er gefehlt. Ein Vater, dem das Lächeln meistens mißlang. Ein Mann, der etwas gemeinsam gehabt hatte mit António de Oliveira Salazar: nicht seine Grausamkeit, nicht seinen Fanatismus, nicht seinen Ehrgeiz und seinen Willen zur Macht, wohl aber die Strenge, ja Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst. Hatte er ihm deshalb so lange gedient, dem Mann in Schwarz mit dem angestrengten Gesicht unter der Melone? Und hatte er es sich am Ende nicht vergeben können, daß er damit auch die Grausamkeit gefördert hatte, eine Grausamkeit, wie man sie an den zitternden Händen von João Eça sehen konnte, die einst Schubert gespielt hatten?
    An den Folgen einer langen Krankheit gestorben. Gregorius spürte, wie ihm heiß wurde vor Wut.
    »Das ist nichts«, sagte Agostinha, »das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was ich sonst an Verfälschung gesehen habe. An schweigender Lüge.«
    Auf dem Weg nach oben fragte Gregorius sie nach der Straße, die in der Todesanzeige gestanden hatte. Er sah, daß sie gerne mitgegangen wäre, und war froh, daß man sie in der Redaktion nun offenbar doch brauchte.
    »Daß Sie sich die Geschichte dieser Familie so sehr… so sehr zu eigen machen – es ist…«, sagte sie, nachdem sie sich schon die Hand gegeben hatten.
    »Sonderbar, meinen Sie? Ja, es ist sonderbar. Sehr sonderbar. Auch für mich selbst.«

16
     
    Es war kein Palast, aber ein Haus für wohlhabende Leute, die sich darin nach Belieben ausbreiten konnten, auf ein Zimmer mehr oder weniger kam es nicht an, Bäder würde es zwei geben oder drei. Hier hatte der gebeugte Richter gewohnt, durch dieses Haus war er an seinem Stock mit dem Silbergriff gegangen, verbissen gegen die ewigen Schmerzen ankämpfend, geleitet von der Überzeugung, daß man sich nicht so wichtig nehmen sollte. Hatte er sein Arbeitszimmer in dem eckigen Turm gehabt, dessen Fenster mit den Rundbögen durch kleine Säulen voneinander getrennt waren? Balkone gab es an der verwinkelten Fassade so viele, daß man den Eindruck hatte, sie gar nicht zählen zu können, jeder mit einem fein ziselierten Gitter aus Schmiedeeisen. Jedes der fünf Familienmitglieder, stellte sich Gregorius vor, hatte einen oder zwei für sich gehabt, und er dachte an die engen, hellhörigen Räume, in denen sie zu Hause gewohnt hatten, der Museumswärter und die Putzfrau mit ihrem kurzsichtigen Sohn, der in seiner Kammer an einem einfachen Holztisch saß und sich mit vertrackten griechischen Verbformen gegen das Radiogedudel aus der Nachbarwohnung wehrte. Der winzige Balkon, zu schmal für einen Sonnenschirm, war im Sommer glühend heiß geworden, und er hatte ihn auch sonst kaum betreten, denn ständig zogen Schwaden von Küchengerüchen darüber hinweg. Das Haus des Richters war dagegen wie ein Paradies aus Weite, Schatten und Stille. Überall hohe, ausladende Nadelbäume mit knorrigen Stämmen und verflochtenen Ästen, die sich zu kleinen, schattenspendenden Dächern zusammenfügten, die manchmal an Pagoden erinnerten.
    Zedern. Gregorius fuhr zusammen. Zedern . Cedros vermelhos. Waren es wirklich Zedern? Die Zedern, die für Adriana in Rot

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