Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
zu sagen, man muß die kosmische Bedeutungslosigkeit unseres gesamten Tuns vergessen, um eitel sein zu können, und das ist eine krasse Form von Dummheit.
Wenn er in dieser Stimmung war, hatte man ihn besser nicht zum Gegner. Das fand man auch in Coimbra bald heraus. Und noch etwas fand man heraus: daß er einen sechsten Sinn für die geplanten Vergeltungsmaßnahmen der anderen hatte. Einen solchen Sinn besaß auch Jorge, und es gelang Amadeu, ihn in sich selbst nachzubilden und dann selbständig zu kultivieren. Wenn er ahnte, daß ihn jemand bloßstellen wollte, suchte er nach dem entlegensten Schachzug, den man zu diesem Zweck machen konnte, und bereitete sich akribisch darauf vor. So muß es auch an der Fakultät in Coimbra gewesen sein. Wenn er im Hörsaal genußvoll an die Tafel zitiert und nach entlegenen Dingen gefragt wurde, lehnte er die Kreide ab, die ihm der rächende Professor mit maliziösem Lächeln anbot, und holte seine eigene Kreide aus der Tasche. ›Ach so, das‹, muß er bei solchen Gelegenheiten verächtlich gesagt haben, und dann füllte er die Tafel mit anatomischen Skizzen, physiologischen Gleichungen oder biochemischen Formeln. › Muß ich das wissen?‹ fragte er, wenn er sich einmal verkalkuliert hatte. Das Grinsen der anderen war nicht sichtbar, aber man konnte es hören. Es war ihm einfach nicht beizukommen.«
Die letzte halbe Stunde hatten sie im Dunkeln gesessen. Jetzt machte der Pater Licht.
»Ich habe ihn beerdigt. Adriana, seine Schwester, wollte es so. Er war auf der Rua Augusta, die er besonders geliebt haben soll, zusammengebrochen, morgens um sechs, als ihn seine unheilbare Schlaflosigkeit durch die Stadt trieb. Eine Frau, die mit dem Hund aus dem Haus trat, rief einen Krankenwagen. Doch er war bereits tot. Das Blut aus einem geplatzten Aneurysma im Gehirn hatte das strahlende Licht seines Bewußtseins für immer ausgelöscht.
Ich zögerte, ich wußte nicht, wie er über Adrianas Bitte gedacht hätte. Die Beerdigung ist Sache der anderen; der Tote hat damit nichts zu tun , hatte er früher einmal gesagt. Es war einer seiner frostigen Sätze gewesen, für die manche ihn fürchteten. Galt er noch?
Adriana, die wohl ein Drache sein konnte, ein Drache, der Amadeu beschützte, war hilflos wie ein kleines Mädchen angesichts der Dinge, die der Tod von uns verlangt. Und so entschied ich, ihrer Bitte zu entsprechen. Ich würde Worte finden müssen, die vor seinem stillen Geist bestehen konnten. Nach Jahrzehnten, in denen er mir, wenn ich Worte vorbereitete, nicht mehr über die Schulter geblickt hatte, war er nun wieder da. Seine Lebensglut war erloschen, aber es kam mir vor, als verlange das weiße, unwiderruflich stille Antlitz noch mehr von mir als das frühere Gesicht, das mich in seiner vielfarbigen Lebendigkeit so oft herausgefordert hatte.
Meine Worte am Grab, sie mußten nicht nur vor dem Toten bestehen können. Ich wußte, daß O’Kelly dasein würde. In seiner Gegenwart konnte ich unmöglich Worte sprechen, die von Gott handelten und von dem, was Jorge dessen leere Versprechungen zu nennen pflegte. Der Ausweg war, daß ich von meinen Erfahrungen mit Amadeu sprach und von den unauslöschlichen Spuren, die er in allen hinterlassen hatte, die ihn kannten, selbst in seinen Feinden.
Die Menschenmenge auf dem Friedhof war unglaublich. Alles Leute, die er behandelt hatte, kleine Leute, denen er nie eine Rechnung schickte. Ich erlaubte mir ein einziges religiöses Wort: Amen . Ich sprach es aus, weil Amadeu das Wort geliebt hatte und weil Jorge das wußte. Das heilige Wort verklang in der Stille der Gräber. Niemand rührte sich. Es begann zu regnen. Die Leute weinten, fielen einander in die Arme. Niemand wandte sich zum Gehen. Die Schleusen des Himmels öffneten sich, und die Leute wurden bis auf die Haut durchnäßt. Doch sie blieben stehen. Blieben einfach stehen. Ich dachte: Sie wollen mit ihren bleiernen Füßen die Zeit anhalten, sie wollen sie daran hindern weiterzufließen, damit es ihr nicht gelingen möge, ihnen den geliebten Arzt zu entfremden, wie das jede Sekunde mit allem tut, was vor ihr geschehen ist. Endlich, es mochte eine halbe Stunde der Reglosigkeit verstrichen sein, gab es Bewegung, die von den Ältesten ausging, die sich nicht länger auf den Beinen halten konnten. Es dauerte dann immer noch eine Stunde, bis sich der Friedhof geleert hatte.
Als auch ich schließlich gehen wollte, geschah etwas Merkwürdiges, etwas, von dem ich später manchmal
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