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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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geträumt habe, etwas, das die Unwirklichkeit einer Szene bei Buñuel hatte. Zwei Menschen, ein Mann und eine junge Frau von verhaltener Schönheit, kamen von den entgegengesetzten Enden des Wegs auf das Grab zu. Der Mann war O’Kelly, die Frau kannte ich nicht. Ich konnte es nicht wissen, aber ich spürte es: Die beiden kannten sich. Es kam mir vor, als sei es ein intimes Kennen, und als sei diese Intimität mit einem Unheil verknüpft, einer Tragödie, in die auch Amadeu verwickelt gewesen war. Sie hatten einen ungefähr gleich langen Weg bis zum Grab zurückzulegen, und sie schienen das Tempo ihrer Schritte genau aufeinander abzustimmen, damit sie gleichzeitig ankämen. Ihre Blicke trafen sich auf dem ganzen Weg kein einziges Mal, sondern gingen zu Boden. Daß sie es vermieden, sich anzublicken, schuf eine größere Nähe zwischen ihnen, als jede Verschränkung von Blicken es vermocht hätte. Sie sahen sich auch dann nicht an, als sie nebeneinander vor dem Grab standen und im Gleichklang zu atmen schienen. Der Tote schien ihnen nun ganz allein zu gehören, und ich spürte, daß ich gehen mußte. Ich weiß bis heute nicht, was für ein Geheimnis die beiden Menschen verbindet und was es mit Amadeu zu tun hat.«
    Eine Glocke ging, es mußte das Zeichen zum Abendessen sein. Ein Anflug von Ärger huschte über das Gesicht des Paters. Mit einer heftigen Bewegung streifte er die Decke von den Beinen, ging zur Tür und schloß ab. Wieder in seinem Sessel, griff er nach dem Lichtschalter und knipste die Lampe aus. Ein Wagen mit schepperndem Geschirr rollte über den Flur und entfernte sich. Pater Bartolomeu wartete, bis es wieder still war, bevor er fortfuhr.
    »Oder vielleicht weiß ich doch etwas, oder ahne es. Ein gutes Jahr vor seinem Tod nämlich stand Amadeu mitten in der Nacht plötzlich vor meiner Tür. Seine ganze Selbstsicherheit hatte ihn verlassen, Gehetztheit bestimmte seine Züge, seinen Atem, seine Bewegungen. Ich machte Tee, und er lächelte flüchtig, als ich mit dem Kandiszucker kam, auf den er als Schüler ganz versessen gewesen war. Dann erschien wieder der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht.
    Es war klar, daß ich ihn nicht drängen, nicht einmal fragen durfte. Ich schwieg und wartete. Er kämpfte mit sich, wie nur er es konnte: als würden Sieg und Niederlage in diesem Kampf über Leben und Tod entscheiden. Und vielleicht war es auch wirklich so. Ich hatte Gerüchte gehört, daß er für den Widerstand arbeitete. Während er mühsam atmend vor sich hin starrte, betrachtete ich, was das Älterwerden aus ihm gemacht hatte: die ersten Altersflecke an den schlanken Händen, die müde Haut unter den schlaflosen Augen, die grauen Strähnen im Haar. Und plötzlich wurde mir mit Schrecken bewußt: Er sah verwahrlost aus. Nicht wie ein ungewaschener Clochard. Die Verwahrlosung war unauffälliger, sanfter: der ungepflegte Bart, Härchen, die aus Ohren und Nase herauswuchsen, nachlässig geschnittene Nägel, ein gelblicher Schimmer auf dem weißen Kragen, ungeputzte Schuhe. Als sei er tagelang nicht mehr zu Hause gewesen. Und es gab ein unregelmäßiges Zucken der Lider, das wie die Zusammenfassung einer lebenslangen Überanstrengung wirkte.
    ›Ein Leben gegen viele Leben. So kann man doch nicht rechnen. Oder?‹ Amadeu sprach gepreßt, und hinter den Worten standen sowohl Empörung als auch die Angst, etwas Falsches zu tun, etwas Unverzeihliches.
    ›Du weißt, wie ich darüber denke‹, sagte ich. ›Ich habe meine Meinung seit damals nicht geändert.‹
    ›Und wenn es sehr viele wären?‹
    ›Müßtest du es tun?‹
    ›Im Gegenteil, ich muß es verhindern .‹
    ›Er weiß zuviel?‹
    ›Sie. Sie ist zur Gefahr geworden. Sie würde nicht standhalten. Sie würde reden. Denken die anderen.‹
    ›Jorge auch?‹ Es war ein Schuß ins Dunkel, und er traf.
    ›Darüber will ich nicht reden.‹
    Schweigende Minuten verstrichen. Der Tee wurde kalt. Es zerriß ihn. Liebte er sie? Oder war es einfach, weil sie ein Mensch war?
    ›Wie heißt sie? Namen sind die unsichtbaren Schatten, mit denen uns die anderen einkleiden, und wir sie. Weißt du noch?‹
    Es waren seine eigenen Worte in einem der vielen Aufsätze, mit denen er uns alle verblüfft hatte.
    Für einen kurzen Moment befreite ihn die Erinnerung, und er lächelte.
    ›Estefânia Espinhosa. Ein Name wie ein Gedicht, nicht wahr?‹
    ›Wie willst du es machen?‹
    ›Über die Grenze. In den Bergen. Fragen Sie mich nicht, wo.‹
    Er verschwand durchs

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