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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gartentor, und das war das letzte Mal, daß ich ihn lebend sah.
    Nach dem Geschehnis auf dem Friedhof dachte ich immer wieder an dieses nächtliche Gespräch. War die Frau Estefânia Espinhosa? Kam sie aus Spanien, wo sie die Nachricht von Amadeus Tod erreicht hatte? Und ging sie, als sie auf O’Kelly zuschritt, auf den Mann zu, der sie hatte opfern wollen? Standen sie berührungslos und blicklos vor dem Grab des Mannes, der eine lebenslange Freundschaft geopfert hatte, um die Frau mit dem poetischen Namen zu retten?«
    Pater Bartolomeu machte Licht. Gregorius erhob sich.
    »Warten Sie«, sagte der Pater. »Jetzt, da ich Ihnen all diese Dinge erzählt habe, sollen Sie auch das lesen«, und er holte aus einem Bücherschrank eine uralte Mappe, zusammengehalten von farblos gewordenen Bändern. »Sie sind klassischer Philologe, Sie können das lesen. Es ist eine Abschrift von Amadeus Rede bei der Abschlußfeier, er hat sie eigens für mich angefertigt. Lateinisch. Großartig. Unglaublich. Sie haben das Pult in der Aula gesehen, sagen Sie. Dort hat er sie gehalten, genau dort.
    Wir waren auf einiges gefaßt, nicht aber auf so etwas. Vom ersten Satz weg herrschte atemlose Stille. Und sie wurde immer noch stiller und atemloser, diese Stille. Die Sätze aus der Feder eines siebzehnjährigen Bilderstürmers, der sprach, als hätte er bereits ein ganzes Leben gelebt, waren wie Peitschenhiebe. Ich begann mich zu fragen, was geschehen würde, wenn das letzte Wort verklungen wäre. Ich hatte Angst. Angst um ihn, der wußte, was er tat, und es wiederum auch nicht wußte. Angst um diesen dünnhäutigen Abenteurer, dessen Verletzlichkeit seiner Wortgewalt in nichts nachstand. Angst aber auch um uns, die wir der Sache vielleicht nicht gewachsen sein würden. Die Lehrer saßen sehr steif da, sehr aufrecht. Einige hatten die Augen geschlossen und schienen damit beschäftigt, im Inneren einen Schutzwall gegen dieses Trommelfeuer blasphemischer Anklagen aufzurichten, ein Bollwerk gegen eine Gotteslästerung, wie man sie in diesem Raum nicht für möglich gehalten hätte. Würden sie noch mit ihm reden? Würden sie der Versuchung widerstehen, sich mit einer Herablassung zur Wehr zu setzen, die ihn wieder zum Kind machte?
    Der letzte Satz, Sie werden es sehen, enthielt eine Drohung, rührend und auch beängstigend, denn man ahnte dahinter einen Vulkan, der Feuer spucken konnte, und wenn es nicht dazu kam, so würde er vielleicht an seiner eigenen Glut zugrunde gehen. Amadeu sprach ihn nicht laut und mit geballter Faust, diesen Satz, sondern leise, beinahe sanft, und ich weiß bis heute nicht, ob es Kalkül war, um die Wucht zu steigern, oder ob ihn plötzlich, nach all der Festigkeit, mit der er die kühnen, rücksichtslosen Sätze in die Stille hinein gesprochen hatte, plötzlich der Mut verließ und er mit der Sanftheit in der Stimme zum voraus um Vergebung bitten wollte, sicher nicht planvoll, aber vielleicht stieß ihm dieser Wunsch von innen her zu, er war ja nach außen hin hellwach, noch nicht nach innen.
    Das letzte Wort war verklungen. Niemand rührte sich. Amadeu ordnete die Blätter, langsam, den Blick aufs Pult gerichtet. Jetzt gab es nichts mehr zu ordnen. Es gab für ihn dort vorne nichts mehr zu tun, absolut nichts. Doch man kann von einem solchen Pult, nach einer solchen Rede, nicht weggehen, ohne daß das Publikum Stellung bezogen hat, in welchem Sinn auch immer. Es wäre eine Niederlage der schlimmsten Art: als hätte man gar nichts gesagt.
    Es drängte mich, aufzustehen und zu klatschen. Allein schon wegen der Brillanz dieser halsbrecherischen Rede. Doch dann spürte ich: Gotteslästerung kann man nicht beklatschen, wie geschliffen sie auch sein mag. Niemand kann das, am allerwenigsten ein Pater, ein Mann Gottes. Und so blieb ich sitzen. Die Sekunden verrannen. Viele durften es nicht mehr werden, sonst war es eine Katastrophe, für ihn wie für uns. Amadeu hob den Kopf und streckte den Rücken. Sein Blick ging zum farbigen Fenster und blieb dort. Es war nicht Absicht, kein schauspielerischer Trick, da bin ich sicher. Es war ganz unwillkürlich und illustrierte, wie Sie sehen werden, seine Rede. Es zeigte, daß er seine Rede war .
    Vielleicht hätte das genügt, um das Eis zu brechen. Doch dann geschah etwas, das allen im Saal wie ein scherzhafter Gottesbeweis vorkam: Draußen begann ein Hund zu bellen. Erst war es ein kurzes, trockenes Bellen, das mit uns wegen unseres kleinlichen, humorlosen Schweigens schimpfte, dann

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