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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Geburtstag von Prado. Im Februar war Humberto Delgado, der einstmalige Kandidat der Mitte-Links-Opposition bei den Präsidentschaftswahlen von 1958, ermordet worden, als er versuchte, aus dem algerischen Exil zurückzukehren und über die spanische Grenze ins Land zu gelangen. Die Verantwortung für den Mord wurde der spanischen und portugiesischen Polizei zugeschoben, doch jedermann war überzeugt, daß er das Werk der Geheimpolizei gewesen war, der Polícia Internacional de Defesa do Estado , P.I.D.E., die alles kontrollierte, seit die Senilität von António de Salazar offenkundig geworden war. In Lissabon kursierten illegal gedruckte Handzettel, die Rui Luís Mendes für die blutige Tat verantwortlich machten, einen gefürchteten Offizier der Geheimpolizei.
    »Wir hatten auch einen Zettel im Briefkasten«, sagte Adriana. »Amadeu starrte das Foto von Mendes an, als wolle er es mit seinem Blick vernichten. Dann riß er den Zettel in kleine Fetzen und spülte sie in der Toilette hinunter.«
    Es war früher Nachmittag, und stille, brütende Hitze lag über der Stadt. Prado hatte sich hingelegt, um seinen Mittagsschlaf zu machen, den er jeden Tag machte und der fast auf die Minute genau eine halbe Stunde dauerte. Es war der einzige Zeitpunkt im ganzen Zyklus von Tag und Nacht, zu dem ihm das Einschlafen mühelos gelang. In diesen Minuten schlief er stets tief und traumlos, taub für alles Geräusch, und wenn ihn etwas aus dem Schlaf riß, war er für eine Weile verstört und ohne Orientierung. Adriana wachte über diesen Schlaf wie über ein Heiligtum.
    Amadeu war eben erst eingeschlafen, als Adriana hörte, wie auf der Straße gellende Schreie die mittägliche Stille zerrissen. Sie stürzte ans Fenster. Vor dem Eingang zum Nachbarhaus lag ein Mann auf dem Gehsteig. Die Menschen, die um ihn herumstanden und Adriana die Sicht verstellten, schrien aufeinander ein und gestikulierten wild. Adriana schien es, als trete eine der Frauen mit der Schuhspitze auf den liegenden Körper ein. Zwei großen Männern gelang es schließlich, die Leute zurückzudrängen, sie hoben den Mann auf und trugen ihn bis zum Eingang von Prados Praxis. Jetzt erst erkannte ihn Adriana, und ihr Herz setzte aus: Es war Mendes, der Mann auf dem Handzettel, unter dessen Foto gestanden hatte: o carniceiro de Lisboa , der Schlächter von Lissabon.
    »In diesem einen Augenblick wußte ich genau, was geschehen würde. Ich wußte es bis in alle Einzelheiten hinein, es war, als sei die Zukunft schon geschehen – als sei sie in meinem Erschrecken als bereits bestehende Tatsache enthalten, und nun würde es nur noch darum gehen, daß sie sich zeitlich ausbreitete. Daß die nächste Stunde einen tiefen Einschnitt in Amadeus Leben bedeuten und die schwerste Prüfung darstellen würde, die er bisher hatte bestehen müssen: Selbst das stand mir mit schrecklicher Klarheit vor Augen.«
    Die Männer, die Mendes trugen, klingelten Sturm, und es kam Adriana vor, als würde sich mit dem schrillen Laut, der stets von neuem einsetzte und zu etwas Unerträglichem anschwoll, die Gewalt und Brutalität der Diktatur, die sie bisher – nicht ohne schlechtes Gewissen – hatten auf Abstand halten können, nun doch noch ihren Weg in die vornehme, behütete Stille ihres Hauses bahnen. Zwei, drei Sekunden lang erwog sie, einfach nichts zu tun und sich totzustellen. Doch sie wußte: Das würde ihr Amadeu nie verzeihen. Und so öffnete sie und ging ihn wecken.
    »Er sagte kein Wort, er wußte: Ich hätte ihn nicht geweckt, wäre es nicht um Leben und Tod gegangen. ›In der Praxis‹, sagte ich einfach. Mit bloßen Füßen rannte er taumelnd die Treppe hinunter und stürzte dort drüben zum Waschbecken, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht schaufelte. Dann trat er zu dieser Liege hier, auf der Mendes lag.
    Er wurde zu Stein, und für zwei, drei Sekunden starrte er nur ungläubig auf das bleiche, erschlaffte Gesicht mit den feinen Schweißperlen auf der Stirn. Er wandte sich um und sah mich zur Bestätigung an. Ich nickte. Für einen Augenblick schlug er die Hände vors Gesicht. Dann ging ein Ruck durch meinen Bruder. Mit beiden Händen riß er Mendes das Hemd auf, so daß die Knöpfe wegspritzten. Er legte das Ohr auf die behaarte Brust, dann hörte er ihn mit dem Stethoskop ab, das ich ihm gereicht hatte.
    ›Digitalis!‹
    Er sagte nur dieses eine Wort, und in der Gepreßtheit seiner Stimme lag der ganze Haß, gegen den er ankämpfte, ein Haß wie aus blitzendem Stahl.

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