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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Linkshänder« sagte sie, während sie die Knöpfe zumachte.
    Gregorius begann sich vor dem Moment zu fürchten, wo sie in der vergangenen Gegenwart, in der sie sich wie eine Schlafwandlerin bewegte, nicht mehr weiterwußte. Doch noch war es nicht soweit. Mit gelöstem Gesicht, das vor Arbeitseifer zu glühen begann, öffnete sie den Medikamentenschrank und prüfte die Bestände.
    »Wir haben fast kein Morphium mehr«, murmelte sie, »ich muß Jorge anrufen.«
    Sie schloß den Schrank, strich über das Papiertuch auf dem Untersuchungstisch, rückte mit der Fußspitze die Waage zurecht, prüfte, ob das Waschbecken sauber war, und blieb dann vor dem Schreibtisch mit der Kartei stehen. Ohne die schräg gestellte Karte zu berühren oder auch nur anzusehen, begann sie über die Patientin zu sprechen.
    »Warum ist sie bloß zu dieser Pfuscherin gegangen, zu dieser Engelmacherin. Gut, sie weiß nicht, wie schrecklich es bei mir war. Aber jeder weiß doch, daß man mit so etwas bei Amadeu gut aufgehoben ist. Daß er auf das Gesetz pfeift, wenn die Not einer Frau es verlangt. Etelvina und noch ein Kind, das ist doch ganz unmöglich. Nächste Woche, sagt Amadeu, müssen wir entscheiden, ob sie im Krankenhaus nachbehandelt werden muß.«
    Seine Schwester, die ältere, hatte ein Kind abtreiben lassen und war dabei fast gestorben , hörte Gregorius João Eça sagen. Es wurde ihm unheimlich. Hier unten versank Adriana noch viel tiefer in der Vergangenheit als oben, in Amadeus Zimmer. Oben, das war eine Vergangenheit, die sie nur von außen hatte begleiten können. Mit dem Buch hatte sie ihr nachträglich ein Denkmal gesetzt. Doch wenn er dort rauchend und Kaffee trinkend am Schreibtisch gesessen hatte, die altmodische Füllfeder in der Hand, hatte sie ihn nicht erreichen können, und Gregorius war sicher, daß sie dann geglüht hatte vor Eifersucht auf die Einsamkeit seiner Gedanken. Hier, in den Räumen der Praxis, war es anders gewesen. Sie hatte alles gehört, was er sagte, hatte mit ihm über die Patienten gesprochen und ihm assistiert. Da hatte er ihr ganz gehört. Für viele Jahre war hier das Zentrum ihres Lebens gewesen, der Ort ihrer lebendigsten Gegenwart. Ihr Gesicht, das trotz der Spuren des Alters – gewissermaßen hinter ihnen – in diesem Moment jung und schön war, sprach von ihrem Wunsch, für immer in jener Gegenwart bleiben zu dürfen, die Ewigkeit jener glücklichen Jahre nicht verlassen zu müssen.
    Der Moment des Erwachens war nicht mehr weit. Adrianas Finger prüften mit unsicheren Bewegungen, ob alle Knöpfe des weißen Mantels zu waren. Der Glanz der Augen begann zu erlöschen, die schlaffe Haut des alten Gesichts sackte nach unten, die Seligkeit der vergangenen Zeit wich aus den Räumen.
    Gregorius wollte nicht, daß sie aufwachte und in die kalte Einsamkeit ihres Lebens zurückkehrte, wo ihr Clotilde das Tonband einlegen mußte. Nicht jetzt schon; es wäre zu grausam. Und so riskierte er es.
    »Rui Luís Mendes. Hat Amadeu ihn hier drin behandelt?«
    Es war, als hätte er eine Spritze von der Ablage genommen und ihr eine Droge gespritzt, die mit rasender Geschwindigkeit durch die dunklen Adern schoß. Eine Welle der Erschütterung ging durch sie hindurch, der knochige Körper zitterte einige Augenblicke wie im Fieber, der Atem ging schwer. Gregorius erschrak und verfluchte seinen Vorstoß. Doch dann verebbten die Konvulsionen, Adrianas Körper straffte sich, der flackernde Blick wurde fest, und nun ging sie hinüber zum Behandlungstisch. Gregorius wartete auf die Frage, woher er von Mendes wisse. Doch Adriana war längst wieder in der Vergangenheit.
    Sie legte die flache Hand auf das Papier des Behandlungstischs. »Hier war es. Genau hier. Ich sehe ihn liegen, als wären seither nur Minuten vergangen.«
    Und dann begann sie zu erzählen. Die musealen Räume wurden durch die Kraft und Leidenschaft ihrer Worte lebendig, die Hitze und das Unheil jenes fernen Tages kehrten in die Praxis zurück, in der Amadeu Inácio de Almeida Prado, Liebhaber von Kathedralen und unerbittlicher Feind aller Grausamkeit, etwas getan hatte, das ihn nie wieder loslassen sollte, etwas, das er auch mit der unerbittlichen Klarheit seines Verstandes nicht hatte bewältigen und zu einem Abschluß bringen können. Etwas, das wie ein klebriger Schatten über den letzten Jahren seines verglühenden Lebens gelegen hatte.
    Es war an einem heißen, feuchten Tag im August des Jahres 1965 geschehen, kurz nach dem fünfundvierzigsten

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