Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Während ich die Spritze aufzog, massierte er das Herz von Mendes, ich hörte das dumpfe Krachen, als die Rippen brachen.
    Als ich ihm die Spritze reichte, begegneten sich unsere Blicke für die Länge eines Wimpernschlags. Wie ich ihn in diesem Augenblick liebte, meinen Bruder! Mit der unerhörten Macht seines eisernen, unbeugsamen Willens kämpfte er gegen den Wunsch an, den Mann auf der Liege, der aller Vermutung nach Folter und Mord auf dem Gewissen hatte und die ganze erbarmungslose Unterdrückung des Staates in seinem feisten, schwitzenden Körper trug, einfach sterben zu lassen. Wie leicht wäre es gewesen, wie unglaublich leicht! Ein paar Sekunden der Untätigkeit hätten genügt. Einfach nichts tun! Nichts!
    Und wirklich: Nachdem Amadeu die vorgesehene Stelle auf Mendes’ Brust desinfiziert hatte, zögerte er und schloß die Augen. Niemals sonst, weder vorher noch nachher, habe ich einen Menschen beobachten können, der sich selbst auf diese Weise niederrang. Dann öffnete Amadeu die Augen und stieß Mendes die Nadel direkt ins Herz. Es sah aus wie der Todesstoß, und ich fror. Er tat es mit der atemberaubenden Sicherheit, mit der er jede Spritze setzte, man hatte das Gefühl, menschliche Körper seien für ihn in solchen Momenten wie aus Glas. Ohne das geringste Zittern, mit unerhörter Gleichmäßigkeit, drückte er Mendes jetzt die Droge in den Herzmuskel, damit sie ihn wieder in Gang setze. Als er die Spritze herauszog, war alle Heftigkeit aus ihm gewichen. Er klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle und hörte Mendes mit dem Stethoskop ab. Dann sah er mich an und nickte. ›Die Ambulanz‹, sagte er.
    Sie kamen und trugen Mendes auf einer Trage hinaus. Kurz vor der Tür kam er zu sich, schlug die Augen auf, und da begegnete er Amadeus Blick. Ich war erstaunt zu sehen, wie ruhig, geradezu sachlich, mein Bruder ihn ansah. Vielleicht war es auch die Erschöpfung, jedenfalls lehnte er gegen die Tür in der Haltung von einem, der gerade eine schwere Krise überstanden hat und damit rechnen kann, jetzt Ruhe zu haben.
    Doch das Gegenteil trat ein. Amadeu wußte nichts von den Menschen, die sich vorhin um den zusammengebrochenen Mendes geschart hatten, und ich hatte sie vergessen. Deshalb traf es uns unvorbereitet, als wir plötzlich hysterische Stimmen hörten, die riefen: ›Traidor! Traidor! ‹ Sie mußten gesehen haben, daß Mendes auf der Trage der Sanitäter lebte, und nun schrien sie ihre Wut auf denjenigen hinaus, der ihn dem Tod, den er verdient gehabt hätte, entrissen hatte und den sie als Verräter an der gerechten Strafe sahen.
    Wie vorhin, als er Mendes erkannt hatte, schlug Amadeu die Hände vors Gesicht. Doch jetzt geschah es langsam, und wenn er vorhin den Kopf hoch oben getragen hatte wie immer, senkte er ihn jetzt unter den Händen, und nichts hätte besser als dieses Senken die Müdigkeit und Trauer zum Ausdruck bringen können, mit der er dem entgegensah, was ihm nun bevorstand.
    Doch weder Müdigkeit noch Trauer vermochten seinen Geist zu trüben. Mit sicherem Griff nahm er den weißen Kittel, den anzuziehen vorhin keine Zeit gewesen war, dort drüben vom Haken und streifte ihn über. Die traumwandlerische Sicherheit, die in dieser Handlung lag, habe ich erst später begriffen: Er wußte, ohne nachzudenken, daß er sich den Leuten als Arzt stellen mußte und daß sie ihn am ehesten dann so sehen würden, wenn er das sprechende Kleidungsstück trug.
    Als er unter die Haustür trat, verstummten die Schreie. Eine Weile stand er nur da, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen des Kittels. Alle warteten sie, daß er etwas zu seiner Verteidigung sage. Amadeu hob den Kopf und blickte in die Runde. Es kam mir vor, als ruhten seine bloßen Füße nicht einfach auf dem Steinboden, als stemme er sie vielmehr hinein.
    ›Sou médico‹ , sagte er, und noch einmal, beschwörend: ›Sou médico‹ .
    Ich erkannte drei, vier unserer Patienten aus der Nachbarschaft, die verlegen zu Boden sahen.
    ›É um assassino!‹ rief jetzt jemand.
    ›Carniceiro!‹ rief ein anderer.
    Ich sah, wie sich Amadeus Schultern in schweren Atemzügen hoben und senkten.
    ›É um ser humano, uma pessoa‹ , er ist ein menschliches Wesen, eine Person, sagte er laut und klar, und vermutlich hörte nur ich, die ich jede Nuance seiner Stimme kannte, das leise Zittern, als er wiederholte: ›Pessoa‹ .
    Gleich darauf zerplatzte eine Tomate auf dem weißen Kittel. Es war, soweit ich weiß, das erste und einzige Mal, daß

Weitere Kostenlose Bücher