Nachtzug
natürlich schmeichelhaft, doch die Leistungen, die sich hinter den Orden verbargen, waren bei weitem nicht so ruhmreich, wie der Sanitätsarzt es darstellte. »Es ist nett von dir, daß du das sagst, alter Freund«, erwiderte er bescheiden. »Aber ich strebe nach höheren Auszeichnungen. Ein Mann ohne Ehrgeiz steht schon mit einem Fuß im Grab.«
Dr. Müller nickte nachdenklich. »Wir müssen alle für etwas kämpfen. Da hast du recht. Was sollten wir auch sonst tun?« Er nahm sein Glas und hielt es über den Tisch. »Auf das Reich!« Sein Freund hob ebenfalls das Glas und wiederholte: »Auf das Reich!«
Sie stürzten das Bier hinunter und aßen wieder ein paar Happen. Nach einer Weile sagte der Kommandant der Einsatzgruppe: »Wenn man dich so von meinem Leben reden hört, Fritz, könnte man meinen, daß dein eigenes Leben todlangweilig ist. Schließlich bist du doch ein Befehlshaber in der SS , genauso wie ich.«
Fritz Müller, ein Mann in den frühen Dreißigern, zuckte mit den Schultern. »Alles ist relativ, mein Freund. Ich finde die Arbeit im Labor faszinierend. Dich würde sie wahrscheinlich zu Tode langwei {277} len. Doch hin und wieder flattert mir ein Problem auf den Schreibtisch und läßt mich nicht mehr los.«
»Was zum Beispiel?«
»Zum Beispiel eine rätselhafte Fleckfieberepidemie.«
Der andere Mann blickte überrascht auf und ließ das tropfende Stück Wurst sinken, das er eben zum Mund führen wollte. »Ach ja?«
»In diesen schweinischen Ländern kommen solche Dinge, wie du weißt, immer wieder vor«, fuhr Dr. Müller fort. »Aber diese Epidemie erfordert unser besonderes Augenmerk. Noch nie habe ich eine solche Virulenz erlebt. Und glaube mir, ich bin froh, daß wir die Gegend beizeiten unter Quarantäne gestellt haben. Wer weiß, was andernfalls mit unseren Truppen an der Ostfront passiert wäre, wenn eine derartige Fleckfieberwelle sie erreicht hätte? Ich schätze die Sterblichkeitsrate auf dreißig bis vierzig Prozent.«
»Tatsächlich!«
»Gott sei Dank haben wir die Seuche eingedämmt«, fuhr der Doktor fort. »Der Gebietskommandant hat mir versichert, daß sie sich nicht über die von uns festgesetzten Grenzen hinaus ausbreiten wird. Aber trotzdem …« Er hielt den Kopf schief und starrte auf seinen halb gegessenen Schinken. »Es fällt in meinen Verantwortlichkeitsbereich, dafür zu sorgen, daß sie nicht weiter um sich greift.«
»Wo ist diese Epidemie, Fritz?«
»In einer Region südöstlich von hier. Etwa auf halbem Weg zwischen Warschau und Krakau, aber etwas weiter in Richtung Ukraine. In der Mitte liegt ein Städtchen namens Sofia.«
SS -Sturmbannführer Maximilian Hartung hob jäh den Kopf.
22
»Hast du Sofia gesagt?«
»Ja, warum?«
»Was für ein Zufall«, entfuhr es Max Hartung, dessen Miene sich schlagartig verdüsterte.
»Was hast du denn plötzlich, Max?«
Nachdem er einen Augenblick nachdenklich dagesessen hatte, sah er {278} auf und antwortete langsam: »Weißt du, vor etwas mehr als einem Jahr war ich dort, um Partisanen aufzuspüren. Aber zu dieser Zeit gab es da noch kein Fleckfieber.«
Maximilian Hartungs Stimme wurde leiser. Sein Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an, beinahe so, als hätte er Müllers Gegenwart vergessen.
»Max, was ist los mit dir?«
Hartung stellte sein Glas ab, stützte sein Kinn auf die Hände und sah sein Gegenüber prüfend an. Fritz Müller hatte ein rundes Gesicht mit kleinen Kulleraugen und trug sein hellblondes Haar so kurzgeschoren, daß er schon aus geringer Entfernung den Eindruck erweckte, ganz kahl zu sein. Er war groß und schlaksig, doch im Gegensatz zu seinem Freund, der für seine »Sonderbehandlungen« und »Liquidierungen« Orden erhalten hatte, war der Arzt nicht das, was man als imposante Erscheinung bezeichnet hätte. Während Max Hartung die breiten Schultern und muskulösen Arme des geborenen Kämpfers und Führers besaß, hatte Fritz Müller das blasse, etwas weichliche Aussehen eines Menschen, der niemals die Sonne sieht.
Noch immer schien Hartung seinen Freund eingehend zu mustern, doch in Wirklichkeit nahm er ihn gar nicht wahr. Statt dessen sah er sich plötzlich einem anderen Gesicht gegenüber, und die Stimme, die daraus sprach, war nicht die des deutschsprechenden Doktors, sondern der leichte Singsang einer jungen Polin. Und sie sagte:
»Vor einiger Zeit glaubte er, einen neuen Impfstoff gegen Fleckfieber entwickelt zu haben. Aber dann merkte er, daß er auf dem falschen Weg war. Wenn es
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