Nachtzug
Gelächter aus, das den Russen erschauern ließ. »Nun komm schon, du störrischer Esel! Siehst du diesen Ordner auf meinem Schreibtisch?« Er schlug mit dem Peitschengriff aus Hirschhorn darauf.
Der Russe beugte sich vor und blickte mißtrauisch auf den Aktendeckel. Sein Name stand in großen Buchstaben auf der Vorderseite. »Ja.« »Wir wissen, wer du bist, Wassilow! Sieh her, wieviel wir über dich gesammelt haben! Es mögen wohl gut zwanzig Seiten sein! Wir wissen, wer du bist, woher du kommst und warum du hier bist! Aber wir haben noch nicht alles. Wir brauchen noch eine weitere Auskunft.«
Sergej Wassilow schloß die Augen und stellte sich vor, daß alles nur ein Alptraum war. Dieter Schmidts schneidende Stimme trat für einen Augenblick in den Hintergrund. Seine Gedanken kreisten um die unfaßbare Nachricht von Rudolfs Tod …
»Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, du Schwein!« brüllte Schmidt.
Als Sergej die Augen aufschlug, rann ihm eine Träne über die Wange.
{273} »Du hast eine Information, die wir haben wollen. Entweder du rückst damit auf der Stelle heraus, oder ich lasse dich durch meine Männer verhören. Wenn du uns die Wahrheit sagst und zur Zusammenarbeit bereit bist, wird es wesentlich angenehmer für dich sein. Denk daran, Wassilow«, Dieter Schmidt schlug abermals auf den Aktendeckel, »wir haben schon jetzt mehr als genug Beweise gegen dich, um dich zu hängen.«
Mit einer wegwischenden Bewegung seiner Stockpeitsche ließ Schmidt den verzweifelten Mann abführen. Gleich darauf erschien ein Adjutant am Schreibtisch des Kommandanten, nahm den Ordner, entfernte die zwanzig leeren Seiten daraus und warf den Aktendeckel in den Papierkorb.
Das Verhör mit Sergej Wassilow zog sich über mehrere Stunden hin. Er war ein zäher, abgehärteter Mann, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, was Schmidt aus ihm herauspressen wollte. Daß Bruckner ein Agent des deutschen Sicherheitsdienstes gewesen war, hatte Wassilow nicht gewußt. Hätte Rudolf daher irgendeine wertvolle Information mit in den Tod genommen, so konnte sein Zimmergenosse nicht darüber Bescheid wissen. Nach fünf Stunden grausamster Folter gestand Sergej Wassilow, mehr tot als lebendig, er sei aus der Roten Armee desertiert, habe als Homosexueller einen Agenten der Gestapo vergewaltigt und trage durch seine perversen Neigungen die Schuld an Rudolf Bruckners Selbstmord.
Am nächsten Morgen wurde Sergej Wassilow als Spion gehängt.
Mit dem Aufbrechen des Eises auf der Weichsel wurde es richtig Frühling, und noch immer hielt die Fleckfieberquarantäne an. Bis zum Sommer des Jahres waren angeblich über vierhundert Menschen gestorben, und mehrere tausend hatten tagelang mit dem Tod gerungen. Die Tatsache, daß niemand die Krankheit wirklich gehabt hatte und daß Jan Szukalski und Maria Duszynska Totenscheine fälschten, war ein Geheimnis, das nahezu jedem in der Stadt mit Ausnahme des deutschen Kommandanten und seiner Leute bekannt war.
Eigentlich hätten die fünf ursprünglichen Verschwörer nun etwas Zeit zum Verschnaufen gehabt, doch zwei von ihnen wurden von anderen Sorgen geplagt.
Da war zum einen Maria Duszynska, die noch immer wehmütig den {274} Erinnerungen an die glücklichen Tage mit Max Hartung in Warschau nachhing.
Eine schwere Zeit war es auch für Pfarrer Wajda, der von einem quälenden Kummer verzehrt wurde. Nächtelang kniete er vor der Marienstatue, die schweißnassen Finger krampfhaft um seinen Rosenkranz geklammert, und blickte in solcher Verzweiflung zum Himmel auf, daß jeder, der ihn so gesehen hätte, von seinem Anblick erschüttert gewesen wäre. Doch Piotr Wajda war Geistlicher und als solcher mit dem Gewissen und der geplagten Seele vertraut. Deshalb konnte er seinen inneren Schmerz gut vor anderen verbergen. Erst wenn er allein war, fiel die Maske von ihm ab, und er litt Höllenqualen.
Einen Katholiken vom Sakrament der Beichte auszuschließen, bedeutete mithin, ihm die Teilnahme am heiligen Abendmahl zu verwehren. Dies wiederum bedeutete, daß er nicht am Leib Christi teilhaben konnte und dadurch des elementarsten Bestandteiles seines Glaubens beraubt war. Wäre dieser Verzicht für einen einfachen Gläubigen schon schlimm gewesen, so bedeutete er für einen Priester, der als solcher für die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi verantwortlich war, die Hölle auf Erden.
Piotr Wajdas Problem bestand darin, daß er eine Sünde begangen hatte, die er nicht beichten
Weitere Kostenlose Bücher