Nachtzug
verändert, wirkte immer noch äußerst nobel. Sein markantes Kinn und seine große, schmale Nase waren immer noch seine hervorstechendsten Merkmale, und auch die stechenden Augen, die sie immer an einen Raubvogel erinnert hatten, waren die gleichen geblieben. Wie komisch, daß ausgerechnet dieser Mann mit seiner imposanten Statur und seinen schieferblauen Augen eine Persönlichkeit in sich barg, die man hinter seinem äußeren Schein kaum vermutet hätte. Maximilian Hartung, der achtundzwanzig Jahre alt war und durch seine strenge Ausstrahlung stets Ehrfurcht gebot, war ein Mann, der über die Dinge des Lebens lachend hinwegzugehen pflegte. Und genau das war es gewesen, was sie so an ihm gemocht hatte, damals an der Universität von Warschau: Diese Leichtigkeit, mit der er den harten Realitäten des Lebens begegnete und sie so erträglicher machte.
»Maria, erinnerst du dich, daß mein Vater in Danzig eine Gießerei {44} besaß?« Er sprach nun gegen den Wind. »Wir stellten unter anderem Kugellager für schwere Maschinen her. Ziemlich oft auch für deutsche Panzer. Damals, also in diesem Sommer, bin ich nach Danzig gereist, um meine Eltern zu besuchen. Ich hatte wirklich vor, in einem Monat zu dir zurückzukehren, Maria.«
Er senkte den Blick und lächelte. »Ich habe nicht vergessen, daß wir damals heiraten wollten.«
»Ja, ich …«
»Wie dem auch sei,
kochana
Maria, jedenfalls war mein Vater zwischenzeitlich an einem Herzanfall gestorben. Als ich heimkehrte, wurde er gerade beerdigt, und ich mußte sofort die Geschäfte in der Gießerei übernehmen. Ich hatte mich so schnell wie möglich einzuarbeiten, und genau zu dieser Zeit fielen die Deutschen in Polen ein. Die Gießerei war so ausgelastet wie noch nie, der Betrieb lief Tag und Nacht. Es gab keine Möglichkeit für mich, wieder an die Universität zurückzukehren, Maria. Und aus den gleichen Gründen trage ich auch keine Uniform.« Er grinste erneut und bemühte sich diesmal nicht, seinen Zynismus zu verhehlen. »Ich glaube, den Deutschen sind die Kugellager für ihre Panzer wichtiger als ein weiterer Soldat.«
Maria musterte seinen dicken Mantel, seine Lederhandschuhe und den Wollschal, den er um den Hals gewickelt hatte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Als sie ihn getroffen hatte, hatte sie in ihrer anfänglichen Aufregung ganz vergessen, daß sie sich im Krieg befanden.
»Ich bin froh, daß du kein Soldat bist. Ich hätte es nicht ertragen, dich in einer deutschen Uniform zu sehen, nicht nach dieser schönen Zeit, die wir in Warschau verbracht haben.«
Hartung schaute ihr ins Gesicht, seine sonst so wölfisch funkelnden Augen blickten plötzlich ernst.
»Stört dich das mit meiner Gießerei? Die Kugellager, die ich herstelle, waren in den deutschen Panzern, die nach Polen rollten. Aber du mußt verstehen, mir bleibt nichts anderes übrig! Entweder zeige ich mich den Deutschen gegenüber gefügig, oder sie stecken meine Familie und mich in eines dieser geheimnisvollen Lager; dann würden irgendwelche anderen Deutschen die Fabrik übernehmen. Bitte, du mußt verstehen, ich habe all das nur getan, um zu überleben! Jeder, {45} der nicht bereitwillig für das Reich arbeitet, wird sofort aus dem Weg geräumt. Was hätte es denn meiner Familie genützt, wenn ich Widerstand geleistet hätte? Bevor am Ende jemand anders diese Kugellager herstellt, warum dann nicht gleich ich? Ich will doch nur überleben und meinen Frieden. Und wenn ich deshalb den Deutschen helfen muß, ihre Panzer zu bauen, dann …«
Sie drückte ihm sanft einen Finger auf den Mund. »Bitte, Max, kein Wort mehr über den Krieg.«
Max und Maria betraten den Weißen Adler, und ihre Schwermut wurde sofort von der heiteren, ausgelassenen Atmosphäre zerstreut, zu der eine Tanzkapelle und das helle Licht beitrugen. Die Hakenkreuzfahnen über den Türen vermochten nicht im geringsten die Stimmung zu trüben.
Der Hotelbesitzer, der über das ganze Gesicht strahlte und einen festlich-eleganten Anzug trug, ließ es sich nicht nehmen, das junge Paar persönlich zu einem Tisch im Speisesaal zu geleiten. Dort legten sie ihre Mäntel ab und hängten sie an einem Kleiderständer auf. Als Maria den Mantel abgelegt hatte, musterte Max sie noch eine Weile mit einem breiten Lächeln. Er wollte ihren Anblick ganz und gar auskosten.
Trug sie nicht denselben marineblauen Rock, der sie damals in ihrem ersten Studienjahr so anziehend gemacht hatte? Und ihre Bluse, die sie neu gekauft hatte und
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