Nachtzug
gelitten hatte, war Sofia vom Schlimmsten verschont geblieben. Dieser kleine Trost – das Wissen um ihren unermeßlichen Sieg – half ihnen, mit der Niederlage fertig zu werden, die ihnen bevorstand.
»Was werden wir jetzt tun?« fragte Hans Keppler.
Szukalski wägte seine nächsten Worte sorgsam ab. Er erhob sich und wandte sich von den vier anderen ab, die erwartungsvoll zu ihm aufblickten. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, antwortete er leise: »Wir werden Pläne für unsere Flucht machen müssen.«
Anna hielt vor Schrecken den Atem an.
»Sie meinen, wir sollen Sofia verlassen?« frage Piotr Wajda fassungslos.
Jan drehte sich um und lächelte seinen Freund an. »Sie haben es die {324} ganze Zeit über gewußt, Piotr. Tun Sie doch jetzt nicht so, als seien Sie überrascht.«
»Jan«, entgegnete Piotr bedächtig, »wir haben immer gesagt, wir würden die Stadt niemals im Stich lassen. Warum reden wir jetzt plötzlich davon?«
»Ich rede nicht davon, sie im Stich zu lassen, Piotr. Ich meine nur, wir sollten die Epidemie beenden und dann verschwinden. Das ist ein Unterschied. Wenn wir der Epidemie selbst ein Ende bereiten, bevor die Deutschen unseren Schwindel entdecken, dann besteht die Aussicht, daß sie nie davon erfahren. Wir hatten vorher nie die Möglichkeit wegzugehen, weil Sofia sonst in die anfängliche Misere zurückgefallen wäre, das heißt, die Deutschen hätten wieder alle Nahrungsmittel gestohlen, unliebsame Personen deportiert und anderes mehr. Aber ich denke nicht, daß dies jetzt noch passieren wird. Die Russen rücken jeden Tag weiter vor, und die Nazis verlieren zusehends an Boden. Bald wird es soweit sein, daß die Quarantäne aufgehoben werden kann und die Stadt trotzdem noch sicher ist. Ich denke, dieser Tag wird bald da sein.«
»Aber wir können doch nicht einfach aufstehen und gehen …«
»Nein, Piotr, das werden wir auch nicht. Zumindest nicht alle von uns. Und nicht auf einmal. Zuerst müssen wir die Epidemie ausklingen lassen, ohne Verdacht zu erregen. Wir müssen unbedingt verhindern, daß die Deutschen die Komplementbindungs-Reaktion auf unsere Proben anwenden, und ich glaube, das würden sie nur dann tun, wenn sie Verdacht schöpfen. Hat die Epidemie erst einmal ein scheinbar natürliches Ende genommen, dann werden uns die Deutschen wohl einfach vergessen.«
»Jan.«
Er schaute auf Maria. »Ja?«
»Warum müssen wir dann überhaupt fort? Wenn die Nazis auf dem Rückzug sind und wir damit rechnen können, daß die Russen uns bald befreien, warum sollten wir Sofia verlassen? Wir können die Epidemie einfach zurückgehen lassen, die Quarantäne wird aufgehoben, und wir sind sicher vor …«
Szukalski schüttelte den Kopf. »Das habe ich mir auch zuerst überlegt. Aber dann fielen mir gewisse Leute ein.« Er hob warnend den Zeigefinger. »Dieter Schmidt sinnt auf Rache. Das weiß ich schon {325} lange. Maria und ich sind ihm ein Dorn im Auge, seit die Epidemie ihren Anfang nahm. Er wartet nur auf den richtigen Augenblick, um uns seinen Mißerfolg hier heimzuzahlen. Dies wird dann der Fall sein, wenn die Quarantäne aufgehoben wird und wir nicht mehr länger gebraucht werden.«
»Sie sprachen von Leuten«, murmelte Pfarrer Wajda und wußte bereits, was Szukalski sagen würde.
»Maximilian Hartung. Wir alle wissen, daß er Sofia mit Rache im Herzen verließ. Wenn die vermeintliche Ansteckungsgefahr erst einmal gebannt ist, wird er wohl nicht zögern, zurückzukommen.«
»Warum sollte er?« fragte Anna. »Er glaubt doch auch, daß die Epidemie echt war.«
»Das schon, aber ich bin sicher, er gibt uns die Schuld an seiner Demütigung. Vielleicht irre ich mich, aber ich habe keine Lust, es darauf ankommen zu lassen. Kurz und gut, ich glaube, es ist an der Zeit, daß einige von uns Sofia verlassen.«
Eine unheimliche Stille kehrte ein. Es war, als ob Szukalskis Worte noch immer drohend in der Luft hingen, und in den Gesichtern spiegelte sich offene Besorgnis. Das leise Summen des Inkubators erfüllte den Raum.
Nach einem langen, bedrückenden Schweigen, sagte Piotr Wajda schließlich: »Ich muß bleiben, Jan.«
»Ja, das weiß ich. Und auch ich kann nicht einfach weg. Wir werden hier gebraucht, und unser Verschwinden würde Verdacht erregen.«
»Ich möchte auch bleiben«, flüsterte Maria.
Doch Szukalski schüttelte den Kopf. »Sie müssen fortgehen, Maria, ebenso wie Hans und Anna.«
Als Keppler etwas erwidern wollte, gebot Szukalski ihm mit einer
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