Nachtzug
Handbewegung Schweigen. »Ich habe die Entscheidung getroffen, und es gibt nichts mehr daran zu rütteln. Sie und Anna sind hier nicht länger vonnöten. Der Impfstoff, den wir haben, reicht uns bis zum Sommer. Danach wird es keine Epidemie mehr geben. Für Sie bleibt hier nichts mehr zu tun. Und Maria, Sie müssen gehen, weil jetzt Ihre einzige Chance ist, die Stadt zu verlassen, ohne Mißtrauen zu erwecken. Bitte, meine Freunde, ich brauche auch jetzt eure volle Unterstützung. Wir haben zweieinhalb Jahre so gut zusammengearbeitet, {326} es wäre doch schade, wenn wir uns jetzt über einen solchen Punkt streiten würden.«
Er lächelte sie wehmütig an und wünschte, er hätte ihnen noch mehr sagen können. Schließlich meinte er nur: »Denkt darüber nach, was ich euch gesagt habe, und kommt morgen nacht wieder. Wir werden uns dann einen Fluchtplan überlegen.«
Etwas ließ Fritz Müller keine Ruhe mehr, seitdem er von dem Symposium über Infektionskrankheiten aus Krakau zurückgekommen war.
Er saß in seinem Büro im Warschauer Zentrallabor und dachte wieder darüber nach, wie aufgeregt Jan Szukalski das Symposium verlassen hatte.
Fritz hatte Szukalski kurz vor Beginn der Vorträge im Hörsaal entdeckt und sich vorgenommen, ihn während der Mittagspause anzusprechen. Als Mediziner, der auf seine Standesehre hielt, machte ihm der peinliche Reinfall, den er damals ohne sein direktes Verschulden in Sofia erlebt hatte, schwer zu schaffen. Schon seit langem hegte er den Wunsch, Szukalski sein Bedauern darüber auszusprechen, daß es dazu gekommen war. Er war zwar Deutscher und Mitglied der NSDAP , doch nichtsdestoweniger gehörte er der Ärzteschaft an und brachte deshalb auch Jan Szukalski eine gewisse Achtung entgegen, obgleich dieser ein Pole war.
Fritz Müller hätte den Fall wohl als erledigt betrachtet, wäre Jan Szukalski bis zum Ende des Symposiums geblieben und hätten sie Gelegenheit gehabt, sich zu einem ungezwungenen Gespräch zusammenzufinden. Doch der Pole war nach dem Mittagessen verschwunden und nicht mehr in den Hörsaal zurückgekehrt.
Vor Verlesung der beiden Abhandlungen über Fleckfieber hatte Jan Szukalski entspannt und ruhig gewirkt. Danach hatte er sich beim Mittagessen zu den Autoren dieser speziellen Arbeiten gesellt, wobei sein Gesicht und sein Verhalten eine gewisse Nervosität verrieten. Unmittelbar danach war er dann verschwunden.
In seinem Büro las Fritz Müller jetzt noch einmal die Titel dieser beiden Vorträge und erkannte plötzlich den Grund für Szukalskis Unruhe. Es gab jetzt neuere und genauere Tests, mit denen Fleckfieber nachgewiesen werden konnte.
{327} Müller klopfte gedankenverloren mit dem Füller auf den Schreibtisch. Vielleicht bildete er sich alles nur ein. Es konnte etwas ganz anderes sein, was Szukalski an diesem Tag so durcheinandergebracht hatte. Doch der leitende Arzt des von Deutschen kontrollierten Zentrallabors in Warschau würde schon herausfinden, was der wirkliche Grund für die überstürzte Abreise seines Kollegen gewesen war.
Müller wußte, daß gut zwei Monate vergehen würden, bevor er die Ausrüstung und die Reagenzien zur Durchführung des Komplementbindungs-Reaktionstests bekommen konnte. Hätte er eine Möglichkeit gesehen, in der derzeitigen Situation nach Berlin durchzukommen, wäre er persönlich hingefahren, um sich das für den Test notwendige Material zu beschaffen. Doch da er im Augenblick nichts tun konnte, griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Labors. »Ich möchte, daß Sie von jetzt an alle Proben aufheben, die wir aus Sofia und Umgebung bekommen. In etwa zwei Monaten werden wir einige spezielle Tests mit ihnen durchführen.«
Nachdem er aufgelegt hatte, dachte er an seinen alten Freund Maximilian Hartung, von dem er seit dessen Versetzung nach Majdanek nichts mehr gehört hatte. Und plötzlich verspürte er den Wunsch, wieder einmal mit ihm zu sprechen.
Die Verschwörer trafen sich in der folgenden Nacht in der Krypta von Sankt Ambroż.
»Maria, ich möchte, daß Sie Ende der Woche reisefertig sind«, sagte Szukalski. »Ich werde Schmidt erzählen, daß man ein Krebsleiden bei Ihnen festgestellt hat und daß Sie zur Behandlung nach Warschau müssen. Es wird wohl nicht schwierig sein, eine Reisegenehmigung für Sie zu bekommen.«
Maria blickte in einer Mischung aus Kummer und Schmerz zu ihm auf. »Ich würde lieber bleiben und bis zum Ende durchhalten«, versicherte sie sanft. »Ich habe keine
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