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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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in der Stadt, nachdem sie aus dem überfüllten Zug gestiegen war, lief sie wie in Trance durch Viertel, die sie früher wie ihre Westentasche gekannt hatte, durch Alleen, die einst Prachtstraßen gewesen waren. Jetzt gab es dort keine Spur mehr von dem alten, romantischen Warschau, das ihr vertraut war.
    Sie ging zuerst zum Haus ihrer Mutter, wo sie erfuhr, daß die meisten ihrer Verwandten Warschau verlassen hatten. Keiner der Nachbarn konnte ihr sagen, wohin sie gegangen waren. Marias einziger Bruder war verschollen, nachdem die Gestapo ihn eines Nachts unter dem Vorwurf, ein Partisan zu sein, verhaftet und mitgenommen hatte. Maria war sich nur einer Sache sicher: Der kleine Geldbetrag, den sie aus Sofia hatte mitnehmen dürfen, würde nicht sehr lange ausreichen.
    Warschau war eine Stadt der Heimatlosen und Vertriebenen. Viele von ihnen stammten aus Städten im Norden und Westen, wo ihr Besitz von den Deutschen konfisziert worden war. Sie drängten sich in Mietskasernen, verrichteten niedere Arbeiten, wo es welche gab, und führten einen tagtäglichen Kampf ums nackte Überleben.
    Dr. Duszynska erkannte, daß sie zu ihrem eigenen Überleben eine von ihnen werden mußte. Und nachdem sie einen Morgen lang mit ihrem kleinen Koffer durch die Stadt gelaufen war, fand sie eine Pension, in der man ihr für eine unerhörte Summe ein enges, schmutziges {337} Mansardenzimmer zur Verfügung stellte. Sobald sie sich dort eingerichtet hatte, unternahm sie den nächsten Schritt.
    Ihre Unterkunft lag nicht weit vom Universitätskrankenhaus, das sie bequem zu Fuß erreichen konnte. In den geruhsamen zweieinhalb Jahren in Sofia hatte sie ganz vergessen, wie es war, sich einer solchen Konzentration von deutschen Soldaten gegenüberzusehen. Sie suchten Warschau heim wie eine Rattenplage und hielten Maria oft an, um ihre Papiere zu kontrollieren.
    Auch die Universität hatte sich verändert. Sie war schon vor einigen Jahren geschlossen worden, und man hatte die Eingänge mit Brettern vernagelt. Wandschmierereien und eingeschlagene Fensterscheiben verschandelten das einst stolze Gebäude, und auf den Gehwegen wucherte Unkraut. Aber das Krankenhaus war noch in Betrieb, ganz wie sie es vorausgesehen hatte.
    Erwartungsvoll überquerte sie die Straße und bezog vor dem Gebäude Stellung. Hier hatte sie ihre Praktika abgelegt und ihre Doktorwürde erhalten, und so hoffte sie, hier jemanden zu treffen, den sie von früher kannte.
    Tag für Tag hielt sie sich vor dem Krankenhauseingang auf, blieb aber nie lange auf einer Stelle stehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und jeden Abend kehrte sie enttäuscht in ihre bedrückende Mansarde zurück.
    Sie war schon nahe daran aufzugeben, als sie vier Tage später endlich ein vertrautes Gesicht erblickte.
    Die junge Frau, eine alte Bekannte, die als Laborantin in Marias damaligem Übungslabor gearbeitet hatte, erkannte sie sofort und war außer sich vor Freude, sie wiederzusehen. Sie gingen auf der Stelle in ein kleines, verräuchertes Café, und nachdem sie einen Augenblick überlegt hatten, wo sie anfangen sollten, erzählten sie sich ihre jeweilige Geschichte.
    Sie habe ihren Mann bei Straßenkämpfen verloren, berichtete die junge Frau. Danach habe sie sich mit einer Anstellung im Zentrallabor allein durchschlagen müssen und sei in der Lage gewesen, ihre kleine Wohnung einen Kilometer vom Krankenhaus entfernt zu halten. Ihre Geschichte war kurz und sehr einfach. Weiter gab es nichts zu sagen.
    Auch Marias Geschichte fiel nicht länger aus: Wegen des russischen {338} Vorstoßes habe sie ihr Zuhause im Südosten verlassen müssen und wisse nun nicht, wohin sie gehen sollte. Von Dr. Szukalski, Sofia und der Epidemie erwähnte sie nichts. Noch am gleichen Abend zog Maria, deren Geld schon fast völlig aufgebraucht war, bei der jungen Frau ein und erfuhr in den folgenden Stunden, daß die Laborantin Beziehungen zum Widerstand unterhielt. Zuerst war Maria erschrocken, daß die Frau so offen darüber sprach, und noch dazu mit jemandem, den sie fünf Jahre lang nicht gesehen hatte. Doch sie begriff schnell, wie weitverzweigt die Organisation der Partisanen hier war und welch große Unterstützung sie in der Bevölkerung genoß. In Warschau gehörte der Widerstand zum täglichen Leben. Sie unterhielten sich die ganze Nacht bei einem Teller Suppe und einer Flasche Wodka, bis Maria ihrer Freundin gestand, daß sie in Wirklichkeit kein Flüchtling sei, sondern vor etwas davonlaufe, über das sie nicht

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