Nachtzug
war, nahm sie ihr ab, und es gelang ihm nach einigen Versuchen, die Tür zu öffnen. Als Maria Licht machen wollte, zog Max sie plötzlich an sich und küßte sie. Während er in der Dunkelheit einen Schritt von ihr wich, flüsterte er: »Ich hätte Warschau niemals verlassen sollen.«
»Vergiß die Vergangenheit«, wisperte sie zurück.
»Von mir aus,
moja kochana.
Von mir aus denken wir nur an den Augenblick, an dich und mich, an Weihnachten, an Champagner und an die Liebe.«
»Wir haben keinen Champagner.«
{52} »Wie bitte? Aber das geht doch nicht, die Tradition will es so! Was hast du denn im Haus?«
»Bier.«
»Bier! Da können wir ja gleich Wasser trinken! Wir brauchen unbedingt Champagner; ich werde sehen, ob ich irgendwo welchen auftreiben kann.«
»Um diese Zeit? Max, sei doch nicht verrückt.«
»Ach …« Zärtlich legte er ihr eine Hand auf die Wange. »Ich meine, vielleicht können wir den Besitzer des Weißen Adlers überzeugen, eine Flasche rauszurücken. Vorausgesetzt er hat welchen.«
»Aber es ist doch schon so spät!«
»Keine Sorge«, murmelte er und schlich zur Tür, »ich werde ganz vorsichtig sein. Heute abend soll eben alles ganz perfekt sein. Wir sehen uns schließlich das erste Mal seit zwei Jahren. Mach bitte Feuer. Einverstanden?«
Er spürte, wie sie im Dunkeln nickte, und so wandte er sich um und schlüpfte schnell nach draußen.
Die Krankenabteilung war um diese Zeit dunkel und still, die Patienten schliefen friedlich, behütet und bewacht von einer einzigen diensthabenden Schwester, die am Ende der Bettenreihen hinter einer Trennscheibe aus Glas saß.
Sie bemerkte nicht die finstere Gestalt am anderen Ende des Krankensaals, die sich hereinschlich und dann reglos im Schatten verharrte. Von hier aus konnte man leicht die Patienten in ihren Betten überblicken, und man sah auch, daß die Schwester den Kopf über ein Buch gebeugt hatte und las. Die einzige Lichtquelle in dem langen Saal war eine trübe Lampe, die das Buch der Schwester beleuchtete.
Die finstere Gestalt suchte die beiden Bettreihen ab und erspähte das bandagierte Haupt des reglosen Zigeuners. Die Dunkelheit begünstigte den Eindringling, da sie ihm eine natürliche Deckung bot. Auf diese Weise verborgen, konnte er rasch und geräuschlos von Bett zu Bett huschen, bis er den Zigeuner erreicht hatte.
Die schemenhafte Gestalt blickte den Krankensaal entlang. Die Krankenschwester hatte nichts bemerkt.
Der Mann lag in bequemer, entspannter Haltung im Bett, sein Gesichtsausdruck war friedlich und sanft. Die finstere Gestalt
schwebte {53} über ihm und musterte neugierig sein Gesicht, während sie dem zarten Geräusch der Schneeflocken lauschte, die sanft gegen das Fenster prallten und sich dort auflösten. Der Eindringling beugte sich vor, und es gelang ihm geschickt, das Kissen unter dem Kopf des Mannes wegzuziehen. Die Gestalt, die jetzt nervös den Atem anhielt, blickte noch einmal zum Dienstzimmer. Die Schwester las weiter still in ihrem Buch. Als er sich jedoch wieder dem Zigeuner zuwandte, bemerkte er, daß dieser durch die leichte Störung aufgeweckt worden war und nun mit panischem Blick in die Finsternis starrte.
Der schwarze Schatten über ihm zögerte noch und wartete den rechten Augenblick ab, um …
»Ihr!« entfuhr es dem Zigeuner heiser, und er riß die Augen weit auf.
»Ja, richtig«, murmelte die Gestalt und drückte dem Mann das Kopfkissen fest und präzise auf sein entsetztes Gesicht.
3
David Ryż gab dem großen grauen Pferd die Sporen und trieb es durch das Schneegestöber. Es war schon spät in der Nacht, und da sie den ganzen Tag lang immer wieder Straßen und Feldwege hatten meiden müssen, war ihnen viel Zeit verlorengegangen. Pferd und Reiter befanden sich nun, als sie sich der Weichsel näherten, am Rande der Erschöpfung.
Während die Beine des Pferdes in den Schneeverwehungen einsanken, beugte David sich vor und streichelte seine Mähne. Dabei flüsterte er ihm auf jiddisch zarte Worte zu, mit denen er es schon auf dem Hof stets bedacht hatte, wenn sie die Felder pflügten. »Bis nach Hause ist es nicht mehr weit«, beruhigte er das Tier, »und eine Decke und Heu warten schon auf dich. Es dauert nicht mehr lange …«
David Ryż setzte sich auf und blinzelte gegen den eisigen Wind an, der ihm mit voller Wucht ins Gesicht blies. Da er unter einigen Bäumen entlangritt, mußte er sich jetzt ducken, um sich vor tief hängenden Ästen zu schützen. Dabei preßte er seine
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