Nachtzug
die mit ihren im Schiaparelli-Stil ausgepolsterten Schultern zum Gewagtesten an Mode zählte, was es damals gegeben hatte? Heute lief jede Frau damit durch die Straßen. Ihr maskulines Äußeres, das zu seinem Bedauern so sehr in Mode war, tat Marias weiblicher Ausstrahlung keinen Abbruch. Ihre eckigen Schultern und der bis zu den Waden reichende Rock betonten nur noch mehr ihre langen Beine, ihre schmale Taille und die diskreten Andeutungen ihrer Brüste unter der dünnen Bluse. Genau so hatte er sie in Erinnerung. Sie hatte sich nicht verändert.
Weil es keinen Importwein gab, hatten sie sich mit einem polnischen Wein aus der Region zu begnügen, der, obwohl aus Pflaumen hergestellt und etwas herb, ausgezeichnet zu dem Mahl paßte, das die Frau des Hotelbesitzers in der Küche zubereitete. Als erster Gang war eine kräftige Kartoffelsuppe mit Lauch vorgesehen, auf die eine dampfende
Kapusta
-Platte mit Schweinshaxen folgen sollte.
{46} »Erzähl mir von dir. Wie ist es dir ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Maria?«
Der Violin-Solist im Hintergrund spielte »Ostatnia Niedziela«. Maria, gleichsam im Einklang mit der Musik, flüsterte sanft: »Ich habe nach dem letzten Jahr an der medizinischen Fakultät meine Abschlußprüfung abgelegt und bin dann ans Hygiene-Institut in Warschau gegangen, eine ausgezeichnete Forschungsstätte, die mit Unterstützung der Amerikaner aufgebaut wurde. Dort habe ich sechs Monate verbracht, habe Vorlesungen besucht und vor allem viel im Labor gearbeitet, meistens im Bereich der Hygiene und Seuchenbekämpfung. Ich glaube, daß man mich wegen meiner guten Ausbildung auf dem Gebiet der Sera und Impfstoffe hierher geschickt hat. Das größte Problem, das wir in diesen ländlichen Gebieten Polens haben, besteht darin, die Bauern davon zu überzeugen, daß Unsauberkeit Krankheiten hervorruft.«
»Du klingst nicht gerade glücklich.«
Sie nippte am Wein und entgegnete gleichgültig. »In dieser Zeit, in der ich mir nicht aussuchen kann, wo ich arbeiten will, ist Sofia gar nicht so übel. Die Stadt hat genau die richtige Größe, und das Krankenhaus ist akzeptabel.«
»Und wie ist dieser Typ, den du mir gerade vorgestellt hast, dieser Szukalski? Wirkt irgendwie etwas mürrisch.«
»Jan ist gar kein übler Kerl, er ist eben ziemlich still und nimmt die Dinge immer sehr ernst. Professionalität geht ihm über alles, aber die Patienten mögen ihn, denn er ist ein guter Arzt und genießt hohes Ansehen.« Marias Blick schweifte zu dem Violinisten, der den Geräuschpegel im Speisesaal mit seinem Lied übertönt hatte. Einen Augenblick dachte sie wehmütig an das Polonia-Hotel in Warschau zurück, in dem sie und Max damals ihre Nächte verbracht hatten. »Jan ist … wirklich nicht übel, ich meine, er mag zwar keine Frauen als Ärzte, aber das gilt wohl für viele Männer. Na ja, er schadet sich selbst, wenn er meint, so denken zu müssen … Aber die Arbeit lenkt ab, deshalb bin ich wohl meistens schon glücklich.«
Max schob seine Hand über die Tischdecke vor und umfaßte Marias Finger. »Worin besteht denn deine Arbeit als Stellvertreterin?«
»Oh, ich helfe ihm bei der Leitung des Krankenhauses. Und bei seinen Forschungen natürlich.«
{47} »Was für Forschungen?«
Der Violonist hatte aufgehört zu spielen, und die gesamte Kapelle stimmte eine
Bajka
an, eine Art Tango. Bald wirbelten mehrere Pärchen über das Parkett.
»Was für Forschungen, meinst du? Oh, in erster Linie geht es um Infektionskrankheiten wie Typhus, Fleckfieber, Hepatitis und dergleichen. Sein Labor ist ziemlich gut ausgestattet.«
»Und, hat er schon ein paar große Entdeckungen gemacht?«
Sie beobachtete die Hand, die ihre Finger umfaßte, betrachtete ihre Größe, die Sanftheit ihres Rückens, die zarten Haare, die darauf sprossen. Plötzlich wurde sie melancholisch. »Nein«, erklärte sie, »vor einiger Zeit glaubte er zwar, er habe einen Impfstoff gegen Fleckfieber entdeckt, aber dann mußte er erkennen, daß er sich auf einer falschen Fährte befand. Wenn es etwas gibt, wozu Jan Szukalski fest entschlossen ist, dann ist es, Seuchen wie Fleckfieber von Sofia fernzuhalten.«
Dann verfiel sie einen Augenblick in Schweigen und musterte den Mann vor sich, in dessen wunderbaren Blicken sie sich, wie damals schon, zu vergessen schien. »Max, du mußt mir etwas sagen.«
»Ja?«
»Wenn dein Vater nicht gestorben wäre, wenn es keinen Krieg gegeben hätte, und wenn all diese Dinge nicht …
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