Nachtzug
kräftigen Beine gegen den wuchtigen Leib des Pferdes, denn er ritt ohne Sattel. Obwohl es {54} schon nach Mitternacht war und heftig schneite, fror David, der nur eine dünne Schaffelljacke über seinem Hemd trug, nicht.
In seinem Herzen loderte das Feuer des Zorns und der Leidenschaft und ließ seinen Leib glühen.
Bald ritt er an weiten Feldern und Weiden vorbei, die sich von der Weichsel bis zu den in der Ferne liegenden Bauernhöfen erstreckten, und legte ein langsameres Tempo vor. Schließlich erreichte er ein dichtes Waldgebiet, das bis ans Flußufer heranreichte.
Jetzt blieb er mit seinem Pferd endgültig stehen und lauschte. Mit seinen vor Kälte geröteten und kribbelnden Ohren hörte er, wie der heulende Wind den skelettartigen Bäumen zusetzte. Aber das Geräusch, das ihn eigentlich interessierte, vernahm er nicht. Die knirschenden Schritte blieben aus.
Schließlich beugte sich David auf dem Pferd ganz weit vor und pfiff dreimal.
Sofort darauf hörte er ein kurzes, schrilles Pfeifen.
David erkannte das Signal und gab dem Pferd wieder die Sporen, das jetzt gemächlich weitertrabte. Er mußte in der Dunkelheit gut aufpassen und seine fünf Sinne zusammennehmen, um den richtigen Weg zu finden. Nach einiger Zeit bildeten die Bäume dann eine Schneise, so daß sich ihm ein schmaler Pfad eröffnete.
David, für den der Gedanke, daß man ihn beobachtete, beruhigend war, trieb sein Pferd den Pfad hinunter, der von einer steilen Felsklippe zur zugefrorenen Weichsel führte. Die Klippe, die sich vom Kiesufer des Flusses erhob und eine dichte Espen- und Birkenkrone trug, war nicht sehr hoch, aber schroff und abweisend, und die schmale Höhlenöffnung an ihrem unteren Ende entzog sich von oben jedem Blick. Es gab nur diesen einen Weg, um zu der Höhle zu gelangen.
Auf halbem Weg hielt David noch einmal an, pfiff dreimal und erhielt erneut die knappe, aus einem Signal bestehende Antwort. Kurz darauf erreichte er den Höhleneingang, stieg vom Pferd ab und ließ, bevor er hineinschlüpfte, seinen Blick rasch über den geisterhaften Fluß schweifen.
»David!« hallte es ihm aus dem finsteren Innern der Höhle entgegen. Dann tauchte im Schein einer Fackel auch schon das lächelnde und aufgeregte Gesicht Abrahams auf, dem die Tränen in den Augen stan {55} den. »David«, wiederholte er, umarmte seinen Freund und zog ihn in die behagliche Höhle.
Auch andere erschienen nun, um ihn zu begrüßen: Esther Bromberg eilte ihm mit einem Handtuch entgegen, um sein Haar trockenzureiben, das von den schmelzenden Schneeflocken ganz naß geworden war, und schließlich huschten noch zwei weitere Männer an ihm vorbei, um sich um sein Pferd zu kümmern. Insgesamt dreiundzwanzig Augenpaare richteten sich nun auf ihn und blickten ihn gespannt und hoffnungsvoll an.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht!« meinte Abraham Vogel und zog ihn nahe an das Feuer, das die weite Höhle mit einem beruhigenden Licht erfüllte und breite Schatten auf die Felswände warf. Mehrere Meter über ihnen verflüchtigte sich der Rauch des Feuers und verschwand langsam durch Spalten, die zum oberen Teil der Klippe führten. »Du warst so lange weg! Setz dich doch, David, nimm Platz und iß etwas!« Doch David wehrte mit einer Handbewegung ab. »Mir ist jetzt nicht nach Essen zumute. Ich muß euch berichten, was ich gesehen habe.«
»David«, erklang eine tiefe, volle Stimme, die Moisze Bromberg gehörte, einem fünfundvierzigjährigen polnischen Juden, der früher als Metzger ganz Sofia mit koscherem Fleisch versorgt hatte. Es handelte sich um einen vierschrötigen, kräftigen Mann mit breiten Händen und einer tönenden Stimme. In dem einen Jahr, da die Höhle für die dreiundzwanzig allmählich zu ihrem Heim geworden war, hatte Moisze nach und nach die Führungsrolle übernommen. Er trat mit einer Tasse dampfender Hühnersuppe vor und drückte sie David in die steifgefrorenen Hände. »David, zuerst mußt du essen und dich ausruhen. Du bist ja fast zu Eis erstarrt!«
David hob die Tasse, um sich an ihren Dämpfen das Gesicht zu wärmen. David Ryż, bei Ausbruch des Krieges achtzehn Jahre alt und Student, war ein stattlicher, leidenschaftlicher junger Mann mit dunklen, temperamentvollen Augen und dichten schwarzen Locken. Er war berüchtigt für sein stürmisches Wesen und seine Ungeduld, Eigenschaften, die ihn kennzeichneten, seit die Deutschen seine Eltern verschleppt hatten.
»Moisze, ich muß erst erzählen. Ich muß unbedingt berichten, was
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