Nachtzug
Seite des Platzes. Der Konvoi war vorbeigezogen, hatte die Stadt durchfahren und bewegte sich
nun weiter Richtung russische Front.
Szukalski vergeudete keine Zeit. Bevor er zum Weihnachtsmahl heimkehrte, mußte er noch etwas erledigen. Es würde nur ein paar Minuten dauern. Er ergriff die Leine des Schlittens, rief Djapa und machte sich dann rasch auf den Weg zur Kirche.
Pfarrer Wajda bereitete gerade einen Gottesdienst vor.
»Herr Pfarrer«, murmelte er und setzte Alexander sanft ab.
Der Priester drehte sich schnell um und lächelte sogleich. »Jan! Und der kleine Alex!« Wajda beugte sich hinunter und streichelte dem Kind über den Kopf. »Fröhliche Weihnachten und Gott segne dich, Alexander.« Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er den ernsten Gesichtsausdruck des Arztes. »Das ist also kein Freundschaftsbesuch?«
{91} Szukalski bemühte sich zu lächeln, doch es gelang ihm nicht.
»Kommen Sie rein, und setzen Sie sich, die nächste Zeit findet keine Messe statt. Ich bewege mich nur ein bißchen, um mich warm zu halten.«
Piotr Wajda steckte die Hände in die Taschen seiner langen schwarzen Soutane und lehnte sich gegen einen Tisch. »Was ist los, Jan?«
»Pfarrer Wajda, ich habe nachgedacht, und obwohl ich Ihnen noch nichts versprechen kann, werde ich es versuchen. Ich werde versuchen, einen medizinischen Vorwand zu finden, damit der Deutsche nicht in das Lager zurückkehren muß.«
Piotr Wajda schloß die Augen und nickte erleichtert. »Ich danke Ihnen«, murmelte er.
»Pfarrer Wajda, ich möchte, daß Sie wissen, daß ich nicht aus Nächstenliebe handle. Ich habe andere Gründe als Sie; ich will nur verhindern, daß unsere Stadt zerstört wird.«
»Ihre Beweggründe mögen ruhig anders sein.«
»Sie müssen wissen, daß es mir wirklich völlig egal ist, ob er vor die Hunde geht oder nicht. Ich will nur nicht, daß er Selbstmord verübt und damit Tod und Zerstörung über diese Stadt bringt. Ich versuche nur, alles zu tun, daß er seinen Urlaub verlängern kann. Dann hat er wenigstens Zeit, sich einen Fluchtplan auszudenken.«
Der Priester nahm Szukalskis Hand und drückte sie. »Danke schön für das, was Sie tun, Jan. Letztlich haben wir doch die gleichen Gründe, denn wir beide kämpfen für Polen. Also, was haben Sie vor?«
»Schicken Sie mir den Soldaten morgen ins Krankenhaus, und dann werden wir weitersehen.«
Dann stand Dr. Jan Szukalski schnell auf, nahm den kleinen Alexander an die Hand und eilte aus der Sakristei nach draußen in das Licht der frühen Nachmittagssonne.
6
Der leichte Schneefall tarnte die beiden dunklen Gestalten, die spät in der Nacht durch die verlassenen Straßen von Sofias jüdischem Viertel schlichen. Als sie sich durch die dunklen Türen und zerborstenen {92} Fensterscheiben stahlen, fiel es Ben Jakobi schwer, seine Furcht zu verdrängen. Zwar vermochte der energische Matuszek mit seiner Entschlossenheit den ihm folgenden alten Apotheker etwas zu beruhigen, aber gegen die fürchterlichen Erinnerungen des alten Juden war auch er machtlos.
Das Getto war jetzt still und einsam, aber achtzehn Monate zuvor war es noch mit Betriebsamkeit und Leben erfüllt gewesen. An diesem Tag – ein paar Monate nach dem Blitzkrieg – waren die deutschen Soldaten in das Judenviertel einmarschiert, hatten alle Juden zusammengetrieben und dann systematisch das Hab und Gut der Bewohner zerstört. Ben Jakobi, der damals gerade ein abgelegenes Gehöft mit Medikamenten versorgt hatte, war erst spätabends zurückgekehrt und hatte gesehen, wie der Schein der Flammen den Frühlingshimmel erhellte. Dabei waren aus der Ferne die verzweifelten Schreie seiner Nachbarn zu ihm herübergedrungen, die von den Soldaten verschleppt wurden. Ben Jakobi erinnerte sich gut an jene Nacht, denn es war ihm damals noch gelungen, zu seiner Apotheke zu schleichen, wo er unter dem Schutt seine tote Frau gefunden hatte. Was in der Folge geschehen war, wußte er nicht mehr. Moisze und Esther Bromberg hatten ihn auf der Flucht vor den Deutschen aufgegriffen, und in den achtzehn Monaten seitdem war Jakobi nicht ein einziges Mal zurückgekehrt.
Doch nun kam er zurück und schlich sich mitten in der Nacht durch die Stadt. Obwohl in Sofia um diese Zeit kein Laut zu vernehmen war, hallten in den Ohren des alten Mannes die ängstlichen Schreie wider, die damals die Ereignisse begleitet hatten.
Eigentlich hatte David Ryż Brunek bei diesem Einsatz begleiten wollen, doch Ben Jakobi hatte darauf bestanden,
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