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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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Papier in die Hand gedrückt hatte, machte Hauptsturmführer Schmidt rasch kehrt und hastete zum Ausgang.
     
    Für einen Weihnachtstag war es in der Stadt merkwürdig still. Oder bildete er es sich nur ein? Hatte das, was der Priester ihm vergangene Nacht gesagt hatte, ihn schon so weit gebracht, daß er die Wirklichkeit anders wahrnahm als sie tatsächlich war?
    Nein, entschied Szukalski, als er die Treppe zu seinem Haus hinaufstieg, er bildete sich nichts ein. Wenn er seinen eigenen
     Wahrnehmungen nicht mehr traute, wem dann sonst?
    Alexander wollte unbedingt hinausgehen, um seinen neuen Schlitten auszuprobieren, und da Katarina noch mit der Weihnachtsgans beschäftigt war, beschloß Jan Szukalski, sich die Zeit mit seinem Sohn {89} im Schnee zu vertreiben. Er packte den Jungen so ein, daß nur noch seine kleinen Augen zu sehen waren, und setzte ihn auf den Schlitten zu Djapa, die sich sofort an den Jungen schmiegte. Dann ergriff Jan Szukalski die dünne Leine und zog den Schlitten auf die Straße.
    Dankbar registrierte er, daß ihm etwas Zeit vergönnt war, in der er nicht an den toten Zigeuner und Dieter Schmidt und Piotr Wajda mit seinen grausamen Enthüllungen denken mußte. Bald rannte er die Straßen hinunter, angefeuert von seinem vor Vergnügen jauchzenden Sohn, während Djapa kläffend zwischen seinen Beinen herumhüpfte.
    Plötzlich mußte er das Tempo verlangsamen, da er außer Atem war, und er betrat den wie von einem weißen Tuch bedeckten Marktplatz, auf dem ein Denkmal des polnischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden Kosciuszko stand, dessen Schultern mit Epauletten aus Schnee bedeckt waren. Djapa gebärdete sich immer noch wie wild und grub jetzt Löcher in den Schnee.
    Doch die trügerische Idylle, dieser Augenblick der Freiheit, den Jan Szukalski auskostete, wurde schnell durch die schrillen Schreie des kleinen Alexander gestört, der mit seinem dick verhüllten Arm zur anderen Seite des Platzes wies und rief: »Tatü! Tatü!«
    Szukalski wandte sich rasch um. Am anderen Ende des Platzes tauchte ein deutscher Konvoi von Lastwagen, Panzern und gepanzerten Truppenfahrzeugen auf, der sich durch das Geschäftsviertel gewälzt hatte. Dieser Prozessionszug wirkte makaber, wie er langsam und leise die Straße hinunterrollte, und seine martialische Bedrohlichkeit stand in ausgesprochenem Kontrast zu dem winterlich märchenhaften Anblick des Platzes.
    Obwohl sich Jan Szukalski in den letzten zwei Jahren an den Anblick der Besatzungstruppen gewöhnt hatte, war er durch diese Machtdemonstration und die Waffen, die er sah, so sehr beeindruckt, daß er sich rasch bückte und Alexander schützend umarmte. Auch Djapa spürte diese plötzliche Veränderung der Atmosphäre und das Vordringen einer unerwünschten Kraft und hüpfte instinktiv zu ihrem Herrchen, zwischen dessen Beinen sie Schutz suchte.
    Während er die vorbeirollenden Panzer beobachtete, preßte Jan den kleinen Alexander gegen sich, bis das Kind vor Unbehagen schrie. Jan Szukalski bemerkte, daß es sich bei vielen Soldaten um junge Männer {90} mit sanften Zügen handelte, in deren Augen eine Art verstörtes Erstaunen zu erkennen war und die sich mit antrainierter Entschlossenheit eine steife Haltung auferlegten. Ja, es waren wirklich hübsche Jungen mit milchweißer Haut, geröteten Wangen und eisblauen Augen.
    Plötzlich erkannte Szukalski, was er bis dahin verdrängt hatte. Noch einmal hörte er, wie die Melodie eines Liedes, das man nicht vergessen kann, die Worte Piotr Wajdas: »Und er hat mir noch etwas erzählt, dieser Soldat aus dem Beichtstuhl. Er hat einen sogenannten ›Lebensborn‹ erwähnt.«
    Jan Szukalski preßte die Augen zusammen, aber immer noch hallte in seinem Geist das Echo des Priesters wider, der ihm in der vergangenen Nacht, bevor er heimkehrte, noch zugeflüstert hatte: »Es handelt sich um einen Plan der SS , in Deutschland eine rein arische Rasse aufzuziehen. Deshalb entführt die SS die blonden und blauäugigen Kinder aus eroberten Staaten und bringt sie in deutschen Familien unter, wo sie als Deutsche aufwachsen. Es ist egal, ob sie Polen, Holländer oder Tschechen sind. Wenn ein Kind nur Hitlers Ansprüche an physische Perfektion erfüllt, dann wird es seinen leiblichen Eltern geraubt und …«
    »Tatüs!« jammerte der kleine Alexander mit gedämpfter Stimme. Szukalski blickte nach unten. Er hielt das Kind so fest umklammert, daß es fast erstickte.
    »Alex …«, flüsterte er.
    Dann sah er wieder zur anderen

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