Nachtzug
Mitleid gefunden hätte, war er jetzt der mächtigste Mann weit und breit, und deshalb mußte man sich vor ihm in acht nehmen.
Schmidt spielte mit den Fingern an seinem Stock und sagte: »Oh, übrigens, Herr Doktor, ich glaube, man wird Sie heute zu einem Hof hier in der Nähe rufen. Offenbar hat dort jemand schwerste Verletzungen erlitten.«
Szukalski stockte das Blut in den Adern.
»Er heißt Milewski. Ein armes Schwein, er muß einen fürchterlichen Unfall gehabt haben. Ja, es ist wirklich schrecklich. Ist es nicht komisch, daß eine so simple Vorrichtung wie ein Mund ein Menschenleben retten kann? Aber der arme, dumme Milewski, ganz polnischer Esel, hat zu lange den Mund gehalten. Und als er ihn endlich öffnete …, na ja.« Dieter Schmidt seufzte, und Szukalski konnte das schwache Knirschen seines schwarzen Ledermantels hören. »Ein Auge hat er verloren, es ist ihm direkt aus dem Schädel gefallen, wie eine reife Tomate. Und dann diese merkwürdigen Male überall auf seinem Körper, vor allem zwischen den Beinen. Armer Kerl, aber ich {85} glaube, daß er wohl schon genug Kinder hat. Ihr Polen vermehrt euch ja wie die Karnickel, nicht wahr?« Er genoß es, den Arzt unverhüllt hämisch angrinsen zu können. »Wie auch immer, Herr Doktor«, fuhr er fort und betonte seine Anrede erneut verächtlich, »es betrübt mich jedenfalls, daß ihr immer noch Verbrechen gegen das Reich begeht. Ihr kämpft immer noch, als ob ihr eine Chance hättet. Ja wissen Sie denn nicht, wie vergeblich das ist, Herr Doktor? Dabei bitten wir doch nur um so wenig, wirklich ganz wenig. Beispielsweise um Ihren täglichen Bericht, der jeden Morgen an mich zu ergehen hat.« Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Es ist doch so einfach: Jeder in Sofia muß mir einen solchen Bericht vorlegen, jedermann in Sofia, der eine amtliche Funktion hat. Selbst der Feuerwehrmann, der nun wirklich nichts Bedeutendes beizutragen hat, ist darauf bedacht, seine Berichte zu meiner Zufriedenheit zu gestalten. Das Gesetz ist für alle gleich. Es ist unabdingbar, daß ich darüber auf dem laufenden gehalten werde, was in dieser Gegend vor sich geht, und vor allem Ihre Berichte sind von entscheidender Bedeutung, da sie aus dem Krankenhaus kommen. Sie als Leiter des Krankenhauses sollten mehr als jeder andere wissen, wie wichtig es ist, daß die Aufzeichnungen vollständig sind.«
Szukalski mußte schlucken und erklärte so beiläufig er konnte: »Sie können versichert sein, Herr Hauptsturmführer, daß ich diese Anordnungen beachte.« Er sprach gleichmäßig und kontrolliert. Sein würdiger Gesichtsausdruck verriet nichts von dem, was in ihm vorging. »Soll ich aus Ihrem Besuch schließen, Herr Hauptsturmführer, daß Sie von jetzt an jeden Tag persönlich kommen werden, um die Berichte abzuholen?«
Einen kurzen Augenblick drohte der SS -Kommandant fast die Beherrschung zu verlieren, sein Gesicht schien vor Zorn zu glühen. Doch dann verschwand diese Regung, und Dieter Schmidt zeigte sich wieder genauso gefaßt wie sein Widerpart. »Ich bin hier, Herr Doktor, um Sie daran zu erinnern, daß jeder, der in seinen Berichten an mich irgendwelche Informationen ausläßt, von mir als Feind betrachtet wird.«
Szukalski blickte Dieter Schmidt ruhig und fest in die Augen und entgegnete unbewegt: »Habe ich Informationen ausgelassen, Herr Hauptsturmführer?«
{86} Nun war das Spiel an dem Punkt angelangt, wo Dieter Schmidt es am meisten genoß, und er wollte sein Vergnügen etwas verlängern. So sehr er Jan Szukalski auch haßte, mußte er doch einräumen, daß es sich um einen würdigen Gegner handelte. Dieser Mann wand sich nicht wie ein Aal, es lief ihm nicht eine einzige Schweißperle übers Gesicht, und er zuckte auch nicht vor Nervosität. Und deshalb würde er seinen Sieg um so mehr auskosten.
»Ich spreche von dem Zigeuner, Herr Doktor.«
»Und?«
Szukalski hielt Schmidts Blick mit unerschütterlichem Gleichmut stand.
»Er wurde in Ihrem Bericht von gestern nicht erwähnt.«
»Natürlich nicht, Herr Hauptsturmführer. Der Mann kam ja erst, nachdem ich den Bericht bereits zu Ihnen geschickt hatte.«
Die beiden Männer waren inzwischen so sehr aufeinander fixiert, als würden sie ihre Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen. Schmidt bemühte sich, gegen die Wut anzukämpfen, die langsam in ihm aufstieg, denn dieser hartnäckige Pole stellte seine Geduld wirklich auf die Probe. Aber sein Ton blieb gesetzt, als er fragte: »Wo ist der
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