Nachtzug
sie ihr Schweigen nicht, bevor sie die Tür hinter sich verschlossen hatten.
Jan Szukalski räusperte sich und sagte: »Leider war meine Neugierde größer, als es ratsam gewesen wäre. Von jetzt an müssen wir viel, viel vorsichtiger sein.«
Maria nickte, und beide fielen in ein nachdenkliches Schweigen. Szukalski bemerkte, wie die Idee, die Pfarrer Wajda ihm in den Kopf gesetzt hatte, ihn zunehmend beschäftigte. Und je mehr Szukalski sich bemühte, seinen unglaublichen Einfall von sich fernzuhalten, desto mehr drängte sich dieser ihm auf.
Eine Fleckfieberepidemie!
»Jan«, meinte Maria auf einmal, »ich habe über etwas nachgedacht.«
{130} »Ja?«
»Das mit Keppler könnte wirklich klappen, ich meine, es ist wirklich möglich, daß Sie die Deutschen zu der Annahme bringen, daß er Fleckfieber hat. Und wahrscheinlich wüßten sie zunächst wirklich nicht, was sie mit ihm anfangen sollen. Deshalb habe ich überlegt, ob nicht …«
»Sprechen Sie nur weiter.«
»Der Gedanke ist mir heute morgen gekommen, als ich auf dem Weg zum Krankenhaus war. Ich dachte darüber nach, wie einfach es sein könnte, Keppler zu retten, und da habe ich überlegt: Könnten wir das gleiche nicht auch für andere tun?«
Szukalski konnte seine Verwunderung nicht verbergen: »Für andere?«
»Ich weiß ja, daß es verwegen klingt, aber was wäre, wenn wir andere Einwohner von Sofia impfen würden und so von Warschau bestätigte positive Resultate erhielten? Wir könnten sogar eine Epidemie vortäuschen.«
»Maria …«
»Ich weiß, daß es sich verrückt anhört, Jan, und ich habe den ganzen Morgen mit mir gerungen, ob ich Sie damit überhaupt belästigen soll. Aber überlegen Sie doch: Wenn der Impfstoff bei Keppler wirkt, dann könnte er doch auch bei anderen wirken.«
»Um Gottes willen, Maria! Genau das gleiche geht mir seit letzter Nacht auch durch den Kopf.«
Szukalskis Erleichterung wurde jetzt nur noch durch seine Aufregung übertroffen. Erleichterung deshalb, weil Maria selbst ihn aus dem Dilemma befreit hatte, ob er seine Idee vorbringen sollte oder nicht, und Aufregung, weil sein Gedanke, wie weit hergeholt er auch immer erscheinen mochte, endlich ausgesprochen war. Plötzlich schien sich eine atemberaubende Perspektive abzuzeichnen.
»Und warum sollte es nicht gelingen?« fuhr er fort. »Wenn wir nur genügend positive Ergebnisse hätten, einhundert oder dreihundert, so viele wie wir für angebracht halten, dann würden die Deutschen selbst unsere Gegend zu einem Quarantänegebiet erklären. Und würde sie das nicht von uns fernhalten, Maria?« Das grausige Bild von Oświęcim, das Keppler gezeichnet hatte, tauchte vor ihm auf. »Sie wissen doch, wie anspruchsvoll die Deutschen sind, Maria, wie verwöhnt {131} und für wieviel
zivilisierter
sie sich halten als uns Polen. Als Volk hatten sie noch nicht so viel mit Fleckfieber zu tun wie wir, und deswegen ist ihre Abwehrkraft von Natur aus der unseren unterlegen, was heißt, daß die Krankheit, wenn sie einmal davon befallen sind, bei ihnen viel schwerer verläuft und mit einer höheren Sterblichkeit einhergeht.«
Während er sprach, stellte Maria an Szukalski Eigenschaften fest, die sie vorher nie bemerkt hatte. Der Mann, dessen inneres Wesen nun zum Vorschein kam, war von tiefen Gefühlen bewegt, voller Leidenschaft, von einer Vision geleitet.
»Sie wissen ja selbst, daß die Deutschen sich an der russischen Front augenblicklich in einer ähnlichen Situation befinden wie damals Napoleon. Ihr Nachschub fließt nur spärlich, sie hocken in engen Bunkern, und ihre Kleidung ist so schmutzig, daß sie wahrscheinlich schon völlig verlaust sind. Das einzige, was jetzt noch fehlt, ist, daß die Läuse den Fleckfiebererreger übertragen. Dann dürfte es zu einer so schweren Epidemie kommen wie damals, als Napoleons Armee dezimiert wurde. Und deshalb hat die Wehrmacht auch eine Heidenangst vor Fleckfieber. Sie würden eine Epidemie nur schwer überstehen.«
Er kam um den Schreibtisch herum und fuhr, sichtbar um Beherrschung bemüht, ruhig fort: »Fleckfieber ist bei uns eine gefürchtete Krankheit, für die Deutschen wäre es eine Katastrophe. Wenn ein Gebiet zu einem Seuchengebiet erklärt und unter Quarantäne gestellt würde, dann würden sie es in Ruhe lassen.«
Maria Duszynska öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bis auf: »Ich weiß«, brachte sie kein Wort heraus.
»Die Deutschen würden uns im wahrsten Sinne des Wortes meiden wie die Pest, und die,
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