Nachtzug
die bereits hier sind, würden zum größten Teil das Gebiet verlassen. Ihre Angst wäre unermeßlich, vor allem wenn sie von ihren eigenen Labors unsere Verdachtsdiagnosen bestätigt bekämen. Sie würden nicht einmal mehr Lebensmittel von uns wollen, und unsere Bauern müßten endlich nicht mehr unter den Plünderungen der Deutschen leiden, die sie fast Hungers sterben lassen.«
Während seine Worte verhallten, trafen sich ihre Blicke, und sie sahen sich lange eindringlich an. Schließlich meinte Szukalski leise: »Das wäre ja wirklich zu schön, wenn wir die ganze Stadt mit ein paar Mikroben vor den Nazis retten würden. Wir wissen ja bis jetzt noch {132} nicht einmal, ob wir den Impfstoff herstellen können oder wie er auf Menschen wirkt. Allein deshalb ist es schon verrückt, an die Verbreitung einer Epidemie zu denken. In der Theorie sieht alles einfach aus, aber tatsächlich … Was muß man tun, um eine ganze Stadt krank erscheinen zu lassen? Und was ist mit der Geheimhaltung? Wir müßten jeden einweihen, und wenn die Deutschen Kontrollen machen, dann stoßen sie auf normale, gesunde …« Er gab einen tiefen Seufzer von sich. »Es scheint, daß mir die Phantasie durchgegangen ist vor … vor …«
»Vor dem Bedürfnis, für Ihr Land zu kämpfen«, entgegnete sie sanft.
»Ihr Freund Hartung hatte recht, Maria, wir müssen irgendwie kämpfen, und zwar jeder nach seinen Möglichkeiten. Bisher sind wir wie Schafe gewesen, aber ich will richtig leben. Und auch meine Frau und mein Sohn sollen leben. Seit der Besetzung Polens habe ich nur ans Überleben gedacht, selbst wenn das bedeutet, daß ich ein Leben nach den Wünschen der Nazis führte. Aber damit ist ab jetzt Schluß!«
Er streifte den Ärmel zurück und schaute auf die Uhr. »Ich werde jetzt Pfarrer Wajda besuchen. Warten Sie heute abend im Labor auf mich?«
Nachdem sie sich im Haus des Priesters getroffen hatten, marschierten die beiden Männer durch den Schnee zur Kirche zurück, wo sie den Küster Żaba antrafen, der in der Sakristei eine kleine Kohlenpfanne anzündete. Żaba, ein Mensch, dessen Herkunft man nicht kannte und der selbst nicht wußte, wie alt er war, stellte durch sein vertrauenerweckendes Wesen und seine ungelenken Bewegungen genau das dar, was sein Name bedeutete, denn Żaba hieß soviel wie »der kleine Frosch«. Als er sich vor fünfzehn Jahren am Hintereingang zur Kirche vorgestellt hatte, war er vor allem durch seine alkoholischen Ausdünstungen und sein schwerfälliges Polnisch aufgefallen, wie es in den Karpaten gesprochen wird. Da er fürchtete, daß er einen weiteren harten Winter nicht mehr überstehen würde, und da Pfarrer Wajda damals gerade einen Totengräber suchte, hatte dieser den mißgebildeten Mann eingestellt, ihn mit Essen und ein paar Zloty versorgt und ihm einen alten Schuppen als Unterkunft zugewiesen, der sich hinter der Kirche befand. Und in diesen fünfzehn Jahren hatte {133} der gute alte Żaba, mit dem die Kinder gerne ihre Scherze trieben, dem Priester seinen Dank bezeugt, indem er ihm mit der unerschütterlichen Treue eines Hundes gedient und seine Arbeit stets mit besonderem Eifer verrichtet hatte. Doch nach Wodka roch er noch immer.
»Ich danke dir, Żaba«, sagte der Priester und wartete ab, bis der Küster den Raum verlassen hatte.
Szukalski nahm Platz und deutete an, daß er es vorzog, mit der Unterredung noch etwas zu warten. Darauf erklärte Pfarrer Wajda deutlich hörbar: »Ich würde Ihnen gerne etwas Wein anbieten, mein Freund, aber die Meßdiener haben sich leider wieder einmal reichlich bedient. Wenn unsereins den Meßwein nicht sorgfältig einschließt, dann kommen diese Teufel in Menschengestalt und stehlen ihn. Und ich glaube nicht einmal, daß sie ihn mit nach Hause nehmen. Letzten Sommer hat Żaba eine leere Flasche in
Pani
Kowalskis Kürbisfeld gefunden.«
Szukalski lachte aus Höflichkeit. Er hatte die Geschichte schon früher einmal gehört. Nachdem einige Augenblicke verstrichen waren, stand er auf, ging zur Tür, die zum Altar führte, und spähte den Innenraum der kalten und grauen Kirche sorgfältig und lange aus, doch bis auf die unheimliche Stille fiel ihm nichts auf. »Wir müssen sehr vorsichtig sein.«
»Auf Żaba ist Verlaß.«
»Nein, Herr Pfarrer, diesmal geht es um etwas anderes. Ich muß Ihnen etwas Neues erzählen, und auch wenn es Ihnen schwerfällt, bleiben Sie bitte geduldig und lassen Sie mich zu Ende sprechen. Und bedenken Sie, daß es bis jetzt
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