Nachtzug
Dieter Schmidt benutzte gerne psychologische Kniffe, um seine Macht zu erhöhen. Wie zum Beispiel die Blutflecken auf dem Parkettboden vor seinem Schreibtisch.
Es klopfte an der Tür. Ein uniformierter Adjutant trat ein, schlug die Hacken zusammen und sein Arm schnellte zum Hitlergruß empor. Jetzt sei die Zeit, informierte er seinen Kommandanten, zu der er ihn noch einmal an den Besucher erinnern sollte, der draußen im Vorzimmer warte.
Schmidt blickte auf die Uhr und nickte zustimmend. Der Adjutant war wirklich außerordentlich pünktlich. Und er hatte ein tadelloses Gedächtnis. Schmidt nahm sich vor, ihn zu belohnen. Bei dem Besucher, den er erwähnt hatte, handelte es sich um einen älteren Herrn, der vor genau drei Stunden mit einem Gesuch in sein Hauptquartier im Rathaus gekommen war. Dem Adjutanten war befohlen worden, den Besucher drei Stunden warten zu lassen, ihm aber zwischendurch immer wieder auszurichten, daß der Kommandant ihn jede Minute empfangen werde.
Schmidt war fest davon überzeugt, daß die Zeit seine wertvollste Waffe war. Er hatte in Berlin gelernt, daß das heimtückischste Mittel gegenüber einem hartnäckigen Gefangenen darin bestand, ihn einfach der zermürbenden Anspannung des Wartens auszusetzen.
Schmidt bat Besucher, die zu ihm kamen, grundsätzlich nicht sofort zu sich herein. Statt dessen ließ er sie im Vorzimmer warten und grübeln und ihnen zwischendurch immer wieder versichern, daß es nicht mehr lange dauere. Seiner Ansicht nach brachte es die Menschen genau in die von ihm gewünschte Verfassung, wenn sie genug Zeit bekamen, um sich immer wieder mit ihren Ängsten und Befürchtungen auseinanderzusetzen, und so in eine gewisse Anspannung verfielen.
»Sagen Sie ihm, er kann hereinkommen.«
Ein alter Mann mit einem auffällig weißen Haarschopf und faltigem Gesicht schleppte sich mit Hilfe des Adjutanten in den Raum und näherte sich voller Demut dem Schreibtisch. Als er nach unten {205} guckte und die Blutflecken auf dem Boden sah, weiteten sich seine Augen.
Schmidt würdigte den Besucher zuerst keines Blickes, sondern schien damit beschäftigt, seine manikürten Fingernägel zu untersuchen. Dann inspizierte er die Aufschläge an seiner Uniform; beim geringsten Anzeichen von Abnutzung würde er sich eine neue machen lassen. Als genügend Zeit verstrichen war, blickte er zu dem greisen Polen auf. »Was wünschen Sie?« fragte er auf deutsch.
Schmidt war überrascht und verärgert, als die Antwort in korrektem Deutsch erfolgte. Ein weiterer seiner Kniffe bestand darin, seine Opfer in einer Sprache stammeln und stottern zu lassen, die ihnen nicht vertraut war. Aber dieser gerissene alte Pole sprach Deutsch wie ein Deutscher. »Ich bin gekommen, Herr Hauptmann, um die Genehmigung zu erbitten, nach …«
»Herr Hauptsturmführer«, korrigierte Schmidt ihn in einem barschen Tonfall.
»Jawohl.« Der alte Mann fuhr sich mit der Zunge über seine bläulichen Lippen, »Herr Hauptsturmführer. Ich bin gekommen, um die Genehmigung zu erbitten, nächsten Monat nach Warschau fahren zu dürfen.«
»Warum?«
Der Filzhut, den der alte Mann in den Händen hielt, war vor drei Stunden noch eine elegante Kopfbedeckung gewesen; inzwischen hatte er ihn völlig zerdrückt. Die knorrigen, braun gefleckten Finger kneteten den Filz, als handle es sich um Brotteig. »Ich soll eine Auszeichnung erhalten …«
»Ihre Papiere!«
»O ja, ja bitte, Herr Hauptsturmführer!« Er wühlte in seiner Manteltasche und zog einen lädierten Umschlag hervor, den er vorsichtig auf den Schreibtisch legte.
Dieter Schmidt starrte den Mann kalt an.
Dieser trat sofort vor, riß den Umschlag auf und verteilte die darin enthaltenen Papiere und Unterlagen über die Schreibtischfläche. »Ich bin Professor Korzonkowski«, erklärte er hastig. »Ich habe früher Chemie an der Hochschule unterrichtet und soll nächsten Monat in Warschau eine Auszeichnung bekommen. Ich würde gerne eine Reisegenehmigung erhalten.«
{206} »Eine Auszeichnung.«
»Für Verdienste um die Lehre.« Der Professor lief rot an. »Viele meiner Studenten sind Ärzte, Professoren, Ingenieure und … Nun …«
Er lief jetzt noch röter an. »Die Akademische Gesellschaft würde mich gerne in Warschau ehren. Dafür habe ich mein ganzes Leben gearbeitet. Diese Anerkennung würde am Ende für mich …« Korzonkowskis Stimme verstummte unter den kalten Blicken Schmidts.
»Verstehe.« Schmidt trommelte mit den Fingern rhythmisch auf dem
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