Nackige Engel
Höhepunkt seines sozialen Wiederaufstiegs erklommen. Nach zwei Jahren unter der Brücke arbeitete er sich vom Spüler zum Hilfskoch hoch.
Über die Kreuzstraße fuhr ich in die Fußgängerzone hinein. Julius lief vorneweg, um die Betrunkenen von der Stoßstange zu pflücken. Fasching in München ist eine traurige Angelegenheit. Während andernorts mit dem Umzug von Kapellen und Vereinen ein Gemeinschaftserlebnis gefeiert wird, Hexen, Urviecher und wilde Männer durch die Straßen stromern, streift sich der Münchner allenfalls das Matrosenhemd über. Lustig oder einfallsreich muss die Verkleidung bei uns nicht sein, man möchte mit bescheidenen Mitteln nur das Signal ausflaggen: Heute sauf ich mir gehörig die Hucke voll. Auch die rote Clownsnase ist entbehrlich, denn der Rüssel wird alkohol- und kältebedingt von selbst Pflümlifärbung annehmen. Für dieses Vorhaben, das der Einheimische gnadenlos durchzieht, braucht er keine Gesellschaft. Plaudereien und Scherze sind anstrengend und halten auf. Es genügt, Zwiesprache mit gefüllten Gläsern zu halten, bis sich das bayerische Bullern in ein bronchiales Grollen verwandelt hat, das von Gesten existenziellen Weltekels begleitet wird, die besagen, dass dieser ganze Fasching doch sowieso ein Schmarren sei.
Ruckzuck bauten wir auf. Julius machte mir Sorgen. Seine Gesichtsröte war vom Hektischen ins Apoplektische übergegangen. Er stand im Laderaum des Busses und stimmte zum wiederholten Mal seine Bassgitarre.
– Here we go, rief Onkel Tom.
Er hatte seine Gitarre umgehängt und stiefelte los.
– Hey, Moment noch, rief Julius.
Er hatte sich niedergekauert, als er jedoch sah, dass der andere nicht warten würde, fuhr er hoch, um ihm hinterherzulaufen. Dabei kam er keinen Zentimeter vom Fleck. Vielmehr krachte er Kopf voraus gegen den Metallholm der Deckenverstrebung und sank dahin zurück, wo er hergekommen war: auf die Knie.
– Den Bass, flüsterte er mit ersterbender Stimme.
Er übergab mir sein wertvollstes Stück, dann kippte er nach hinten weg und lag flach. Ich erschrak. Er starrte wie ein abgestochenes Tier nach oben, seine Pupillen bewegten sich nicht mehr. Ich tätschelte seine Backen, wurde dann heftiger und schüttelte seinen Kopf hin und her. Er kam wieder zu sich und versuchte sich aufzurappeln.
– Sag Tom, ich brauche noch ein bisschen. Aber bring schon mal den Bass auf die Bühne.
– Alles gut?
Julius nickte tapfer.
– Wird gleich wieder.
Ich ging los. Onkel Tom stand schon auf der Bühne, um die sich ein ungeduldiges Publikum versammelt hatte. Als ich hinaufsprang, kam Beifall auf.
– Julius hat was abgekriegt, es dauert noch ein paar Minuten, flüsterte ich ihm zu.
– Auf geht’s, schrien sie von unten.
Jetzt durchzugeben, dass der Bassist wegen einer Unpässlichkeit nicht einsatzfähig sei, wäre der Tod dieses Auftritts gewesen. Onkel Tom erkannte das sofort und wusste, dass er nun loslegen musste. Ich machte Anstalten, den Bass in den Ständer zu stellen und von der Bühne zu verschwinden.
– Häng dir das Ding um und spiel, zischte er.
– Kann ich nicht.
– Dann tu wenigstens so, du Arschloch!
Natürlich hatte ich schon Erfahrungen mit der Luftgitarre gesammelt. Sie ist das einzige Instrument, das ich voll beherrsche. Der Luftbass musste allerdings anders bedient werden. Der Mann hielt sich mehr beim Schlagzeug auf, hampelte nicht herum, ging nicht in die Knie, riss auch sein Instrument nicht hoch – die Show machten andere. Der Bassist stand souverän wie ein Fels in der Brandung, er verrichtete seine Aufgabe mit abgebrühter Routine, half dem Schlagzeug, Melodien zu verstehen, und gab der Gitarre eine pulsierende Unterlage. Nur geschulte Zuhörer verstanden wirklich, was dieses Instrument leistete, die meisten spürten nur dann, wie wichtig sein Beitrag war, wenn der Bassist zu spielen aufhörte.
Ich baute mich neben Henry auf. Er flüsterte, ich solle mit ihm zusammen einsetzen. In dem Rhythmus, den er vorgebe, die oberste Saite wummern lassen.
Onkel Tom begann wie immer damit, um einen einfachen Riff herum, auf den er immer wieder zurückkam, seine Virtuosität auf der Gitarre vorzuführen. Er tupfte, orgelte, transponierte seine Melodie von einer Lage in die nächsthöhere und haute zwischendrin krachende Akkorde raus. Wenn das Publikum akzeptiert hatte, dass da ein Könner vorne stand, ließ sich jeder Gig nach Hause schaukeln. Diesmal spielte Onkel Tom sein Solo auch für mich, um den Bass möglichst lang zu
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