Nackige Engel
vermeiden.
Endlich bekam ich den Blick wieder klar und traute mich ins Publikum zu gucken. Denen da unten schien nicht aufzufallen, dass von den drei Musikern einer nur ein Poser war. Ich entspannte mich und überlegte, wie ich meinen Auftritt anlegen sollte. Wenn nun schon das Schicksal die Rolle des Bassisten für mich vorgesehen hatte, dann durfte ich sie nach meinen Vorstellungen ausgestalten.
Genau genommen hatte ich mir eines schon immer gewünscht, und diesen Traum erfüllte ich mir nun. Ich drehte mir eine Zigarette, zündete sie an und klemmte sie gleich ganz oben am Hals zwischen die Saiten. Wie ein Räucherstäbchen glomm sie vor sich hin. Lässiger ging es nicht.
Unten im Publikum sah ich ein Einhorn auftauchen. Julius mit einer Riesenbeule am Kopf schob sich durch die Menge. Der Blick, den er auf mich gerichtet hatte, zeugte von großer Panik. Ich hielt den Daumen hoch und gab ihm ein Zeichen abzuwarten. Endlich kam unser Einsatz. Ich wummerte ein bisschen bei Henry mit, und Onkel Tom, der Julius nun auch bemerkt hatte, brachte das Ding schnell zu Ende.
Ich pflückte meine Zigarette vom Hals, stellte den Bass auf den Ständer, winkte kurz ins Publikum und sprang von der Bühne.
33
Anderntags ging ich zu Fuß ins Tal hinüber zum Bräuhaus, wo ich mit Stan für den Abend verabredet war. Die Kälte war so bitter, dass sie bis an die Knochen kam. Jedes Jahr hoffte man aufs Neue, dass man aus dem Winter glimpflich herauskommen würde. Aber der eisige Alte, der durch den Fasching ausgetrieben werden sollte, gab nicht so leicht auf. Wie auch sonst im Leben musste erst der Tiefpunkt erreicht werden, um zu einer Umkehr zu gelangen. Und dem strebten wir jetzt temperaturmäßig entgegen.
Im Bräuhaus waren die Fenster dampfig beschlagen, aus der Küche drangen Essensschwaden. Der Laden war gesteckt voll, die Stimmung gelöst, denn heute war überall Fischessen angesagt. Um zu kaschieren, dass man aus dem ersten strengen Fasttag eine Völlerei gemacht hatte, bemühte man nur noch die Wendung eines traditionellen Fischessens. Und der Fisch brauchte als angemessene Umgebung das Flüssige, vorzugsweise den trockenen Weißwein. Aber da der Oberbayer nun mal auf kein Hausgewächs wie einen Berchtesgadener oder Garmischer Riesling zurückgreifen kann, begnügte er sich eben mit reichlich Bier; man war ja bescheiden und wollte in der Fastenzeit nicht gleich von Anfang an über die Stränge schlagen.
Früher erkannte man den Aschermittwoch schon am Geruch. In den Stiegenhäusern stand fischiger Dunst, kulinarisch so verlockend wie ein Löffel Lebertran. Da die bayerische Hausfrau mit Meerestieren wenig anzufangen wusste, ummörtelte sie das Seelachsfilet mit einem Panadepanzer. So kam es als kompaktes Teil mit dem Charme eines Schnitzels auf den Tisch, und man musste sich nicht mit den trockenen Fischrippen abgeben, die wie umgefallene Dominosteine auf die Vorlegeplatte drapiert waren.
Stan hatte einen Ecktisch reserviert. Wir wurden vom Kellner geradezu hofiert, denn Stan war vom Geschäftsführer als Kollege bereits erkannt und gebauchpinselt worden.
Ich war angespannt. Wie ich die Sache anpacken sollte, war mir bis zuletzt nicht klar geworden. Stan machte keine Anstalten, sich aus der Reserve locken zu lassen oder mit mir kumpelhaft zu fraternisieren. Wie Geschäftspartner saßen wir uns gegenüber. In solchen Situationen stellt man erst fest, wie sperrig Salatblätter sein können, wie rutschig der Soßenspiegel einen Teller macht, sodass die Petersilienkartöffelchen in alle Richtungen auskeilen, statt sich mit der Gabel zerdrücken zu lassen, wie wenig wir uns stilmäßig von den Hominiden unterscheiden, wenn wir Gräten aus dem Mund pulen. So arbeitete ich mich am Materialwiderstand ab und bekam den Kopf nicht frei.
Schließlich war auch das geschafft, und Stan schaute in seine Espressotasse, die er beständig drehte. Er trocknete unser Gespräch jetzt systematisch aus, indem er jegliches Konversationsgeplänkel verweigerte und mich so in Zugzwang brachte.
– Unser Treffen neulich hat viel in mir aufgewühlt, begann ich.
Er blickte auf und wartete.
– Ich habe damals einen großen Fehler gemacht.
Er nickte.
– Ich kann mein Problem in eine einfachen Frage bringen.
Er schob auffordernd das Kinn vor.
– Das mit Innerkofler damals, dieser Unfall: Hast du den inszeniert?
Ich beobachtete ihn genau. Sein Blick flackerte auf, irgendetwas zündete in ihm. Dann aber lehnte er sich entspannt zurück,
Weitere Kostenlose Bücher