Nackt unter Wölfen
kümmerte ihn der Amerikaner? Schließlich war man sich selbst der Nächste. Er begriff den Kommandanten nicht. Es lag ihm gar nichts daran, dessenKommandogewalt zu untergraben. Aber warum sollte man sich auf der Flucht noch mit diesem Lagerpack belasten, wenn man es viel einfacher haben konnte? Was lag näher, als alles, was sich hinter dem Stacheldraht befand, zusammenzuschießen, sich ins Auto zu setzen und …
»Sie haben nun gesehen, wie die Leute denken«, sagte er zu Schwahl, »warum sträuben Sie sich zu schießen?«
Schwahl, in die Enge getrieben, zog sich hinter den Schreibtisch zurück.
»Wer sagt, dass ich nicht schießen will? Wenn es sein muss, fliegt innerhalb einer halben Stunde das ganze Lager in die Luft!«
»Dann lassen Sie es doch in die Luft fliegen!«, schrie Kluttig. »Nach uns die Sintflut! Wenn wir gehen, soll auch kein bolschewistischer Schweinehund am Leben bleiben!«
Die Blockführer begannen aufs Neue zu randalieren.
»Abknallen das Gesindel!«, riefen sie. Das auflebende Gewirr der Meinungen drohte Schwahls wohldurchdachte Konzeption erneut durcheinanderzubringen.
Mit harten Schritten trat er unter die Streitenden.
»Ich gebiete augenblicklich Schweigen!« Die Schärfe des Befehls verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit Genugtuung stellte Schwahl fest, dass sie ihm noch gehorchten. Die sofort eingetretene Stille gab ihm die Sicherheit zurück, und blitzartig erkannte er, dass es galt, durch unerschrockenes Auftreten die wankende Autorität zu festigen. Angriffsmutig stemmte er die Fäuste in die Hüften und sah grimmig reihum. Wunderbar war es, in diese Erstarrung hineinzusprechen. Schwahl wiederholte, was er eben gesagt hatte. »Wer sagt, dass ich
nicht
schießen will?« Es war wie ein Schuss auf den Spiegel der Zielscheibe. Doch ins Schwarze schien Schwahl trotzdem nicht getroffen zu haben.
Sofort nämlich reagierte Kamloth.
»Standartenführer!« In seinem Anruf lag ein unverhältnismäßigharter Zwang. Schwahl fuhr zu dem Sturmbannführer herum, für einen kurzen Moment prüften sie sich mit Blicken.
»Geben Sie mir Ihr Offizierswort darauf?«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!«, antwortete Schwahl, ebenso peitschend, wie Kamloth gefragt hatte. Es war wirklich wie ein Schusswechsel zwischen den beiden, und an dem Verhalten aller erkannte Schwahl, dass er das Schwarze getroffen hatte.
Achtung, aufpassen, dachte Reineboth, der Diplomat ist in der Klemme, aber für jetzt hat er gesiegt.
»Bitte, nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein.«
Schwahl wartete, bis die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt war.
Selbst Kamloth hatte sich hingesetzt.
Schwahl genoss die erwartungsvolle Stille. Die Krise war überwunden. Jetzt war er wieder ganz Rang und Kommandant, er stand neben Weisangk. Der hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und die Arme breit ausgelegt und setzte seinen Stolz darein, für seinen Standartenführer ein grimmiges Gesicht zu machen.
Schwahl trat hinter den Schreibtisch.
»Ich gebe Ihnen das Fernschreiben Reichsführer SS bekannt.«
Er las vor: »In Anbetracht der Bedrohung Thüringens durch 3. Amerikanische Armee General Patton befehle ich: Mir unterstelltes Konzentrationslager Buchenwald ist zu evakuieren. Zeitpunkt und Durchführung der Aktion im Ermessen der Lagerführung. Alleinige Kommandogewalt Lagerkommandant. Treue dem Führer. Heil Hitler. Reichsführer SS Himmler.«
Schweigen.
Wie großartig sich das gelesen hatte. Schwahl schob das Kinn aus dem Kragen, hatte den Eindruck, als hätte er mitder Stimme Himmlers gesprochen. Kamloth sah auf seine wippende Schuhspitze. Weisangk hatte die Fäuste auf die Schenkel gestemmt und sich vorgebeugt. Er blinzelte mit vertränten Hundeaugen. So also. Na, dös wäre gelacht. – Die Wirkung auf seine Zuhörer war unverkennbar, und Schwahl nützte sie aus.
»Das Lager geht in Etappen. Täglich 15 000 Mann. Zuerst die Juden. Richtung Hof, Nürnberg, München, Sturmbannführer Kamloth teilt die Begleitmannschaften ein!«
»Und was macht meine SS, wenn sie mit dem Gesindel in München angekommen ist?«, fragte Kamloth. Schwahl lächelte im Mundwinkel. »Wie viel von dem Gesindel in München ankommt, ist Ihre Sache, Sturmbannführer. Meine Sache ist, keine Toten im Lager zurückzulassen.«
»Aha, ich verstehe«, höhnte Kamloth. »Sie wollen vor dem Amerikaner den loyalen Mann spielen und überlassen den Abwasch mir.«
»Sie verstehen mich eben nicht, Sturmbannführer«, belehrte Schwahl. »Was von den Häftlingen bis
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