Nackt unter Wölfen
zu war den Alliierten ein tiefer Einbruch gelungen. Im Raum von Warburg und an der Werra sollten sie schon bis nördlich von Eisenach vorgedrungen sein … Wenn sich diese Meldungen, die Kodiczek und Pribula mitgebracht hatten, bestätigten, dann gab es keinen Zweifel mehr, dass die Erschießung der 46 die Vorbereitung zur Evakuierung war. Jede Stunde konnte sie einsetzen!
Plötzlich jaulte die Sirene und gab nochmals Alarm. Die Genossen, in einer Ecke des Operationsraumes zusammengedrängt, horchten nach außen. Der sonore Gesang der Motoren zog über das schweigende Lager hinweg. Es musste diesmal ein mächtiger Angriff auf das Land sein. Keiner der Männer sprach.
Bogorski musterte ihre verschlossenen und unbewegten Gesichter. Bochow hatte den Kopf in die Fäuste gestützt und sah vor sich hin. Van Dalen lehnte mit dem Kopf gegen die Wand, auf seinem breiten Gesicht spielten die Gedanken wie Lichtkringel.
Pribulas Augen waren hart und starr, sein Mund verbissen. Kodiczek fing Bogorskis wandernden Blick auf und schlug die Augen nieder. Was verbarg sich hinter dem gemeinsamen Schweigen? Bogorski blickte zu Bochow, auch er schwieg.
Das Gedröhn der Bomberverbände war in der Ferne verschwunden. Irgendwo zwischen den Häusern der Städte rasselte und knatterte jetzt die von den herabsausenden Bomben zerrissene Luft, quoll die braungelbe Lohe der Einschläge träg zum Himmel, Zerrissenes und Geborstenes mit einem Hagel von Steinen auf die Erde zurückschüttend.
Irgendwo tobte und raste jetzt die Furie unter schreienden und irrenden Menschen, irgendwo, fern vom Lager.
Aber hier, über den sich duckenden Baracken, hier, in der Ecke eines Operationsraumes, hockte eine kleine Gruppe von Männern, und zwischen sie und die 50 000 des Lagers hatte das Schicksal eine Handvoll Menschen geschoben, 46 an der Zahl, um die fünf, die hier in der Ecke hockten, zu versuchen wie weiland der Teufel jenen Christus auf dem Berg. Denn wenn morgen früh die 46 starben, dann …
Bogorski wartete nicht, dass einer redete, er zog die Decke des Schweigens weg und sprach aus, was sie alle dachten: Wenn morgen früh die 46 erschossen werden, so sagte er, dann wird das vermeintliche ILK erschossen!
Dann, fuhr er fort, glauben die Faschisten, den führenden Kopf zertreten und für ihre Evakuierung freie Hand zu haben. Wir aber, Genossen, sind noch da, und der Apparat ist nicht führerlos geworden. Wir können Menschen retten, viele Menschen, weil 46 für uns gestorben sind, für uns und 50 000!
Ist das nicht gut so? –
Van Dalen schob die Augenbrauen hoch. Kodiczek senkte wieder den Blick, Pribula fluchte, es litt ihn nicht, still zu hocken. Da er nicht aufspringen durfte, um am Fenster nicht gesehen zu werden, rutschte er unruhig hin und her.
»Nein«, sagte Bochow unvermittelt und blickte Bogorski starr ins Gesicht. Das »Nein« war wie ein Schlüssel in die Herzen aller gefahren. Pribula musste so vieles sagen, aber er vermochte nur, das deutsche »Nein« auf Polnisch zu wiederholen:»Nje! Nje, nje!«, zischte er heiß. Jetzt lehnte sich auch Bogorski gegen die Wand und schloss die Augen, erschöpft und erlöst. –
Bochow begann von etwas anderem zu sprechen.
»Mit dem Kind, Genossen«, sagte er, »ist das Unheil zwischen uns gefahren. Jetzt ist das Kind spurlos verschwunden. Wer hat es weggebracht? Einer von uns nur kann es gewesen sein. Es ist ein polnisches Kind. Warst du es, Josef?«, fragte er Pribula. Der junge Pole warf entsetzt die Arme hoch. »Ich? – Ich fragen selber, wo ist das Kind?«
»Warst du es, Leonid?«
Bogorski öffnete die Augen und antwortete mit überzeugendem Ton: »Ich haben das Kind nicht fortgeschafft.«
Auch van Dalen und Kodiczek versicherten von sich das Gleiche. Aus jedem Mund sprach die Wahrheit, Bochow hatte dafür ein feines Ohr. Es blieb somit der Verdacht an dem abwesenden Riomand hängen. Alle, selbst Bochow, waren aber der Meinung, dass es der Franzose nicht gewesen sein konnte. Bochow hob resigniert die Hände. »Nun gut, vielleicht hat es Krämer beiseitegeschafft. Mag das Kind stecken, wo es will, mag es einer getan haben, wer es auch sei, es ist fort, verschwunden, aus. – Ich muss euch etwas sagen.« Bochow legte die Hände an die Brust. »In mir ist vieles anders geworden. Mein Herz, Genossen …« Er überwand sich zu einem Geständnis.
»Als ich hier eingeliefert wurde, da habe ich mein Herz mit den Effekten auf der Kammer abgegeben, ein unnütz und gefährliches Ding
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