Nackt unter Wölfen
schallte durch die Lautsprecher über das Lager: »Lagerältesterherhören! Mit sämtlichen Blockältesten am Tor antreten! Im Laufschritt!« Eine Anzahl von Blockältesten war in Krämers Raum versammelt, als die Durchsage kam. Krämer hatte sich die Kumpels kommen lassen, um mit ihnen das Verbergen der Bedrohten zu besprechen. In Bochows Block waren Runki, der ebenfalls auf der Liste stand, und Bochow dabei, unter dem Pult Dielenbretter zu lösen, um einen Schlupf in die Fundamentgrube zu schaffen, in die sich Runki verstecken sollte.
Jetzt horchten sie auf, als sie Reineboths Stimme hörten. Überall horchten die Häftlinge auf, in den Blocks, in den Lagerwerkstätten …
Die Durchsage wiederholte sich.
Aus den Blocks herbeieilend, versammelten sich die Gerufenen an der Schreibstube vor Krämers Raum, von neugierigen Häftlingen, die sich um diese Zeit im Lager befanden, umringt. Was war los? Warum mussten die Blockältesten zum Tor? Evakuierung? Heute{? Jetzt? Morgen}?
Krämer kam mit den übrigen Blockältesten heraus. Sie reihten sich ein.
»Kameraden«, rief Krämer, »wie immer Ruhe, Ordnung, Disziplin, versteht ihr?«
Kluttig, am Fenster in Reineboths Zimmer stehend, sah den Trupp den Appellplatz heraufkommen.
»Affentheater«, knurrte er.
»Diplomatie, Geschick«, höhnte Reineboth den Lagerführer an.
Kluttig wandte sich schroff vom Fenster weg, mit »Schissarsch« bezeichnete er den Kommandanten, auf dessen Befehl die Blockältesten angetreten waren.
»Klugarsch«, korrigierte Reineboth und machte ein hohnvolles Gesicht.
»Ich höre mir seinen Klamauk nicht mit an«, zischte Kluttig und wollte das Zimmer verlassen.
»Er will dich auch gar nicht dabeihaben, du störst ihn nur.« Reineboth lachte hässlich auf. »Jedem das Seine. Morgen früh hast du dein Vergnügen.« Er krümmte vielsagend den Zeigefinger.
Wütend schlug Kluttig die Tür hinter sich zu.
Die Blockältesten warteten am Tor. Niemand ließ sich sehen, nicht einmal Reineboth kam. Krämer beobachtete den Weg vor dem schmiedeeisernen Tor. Er sah Kluttig mit weiten Schritten den Weg entlanggehen und hinter dem Dienstgebäude des Kommandanten verschwinden. Am Fenster lungerte der diensttuende Blockführer herum.
Ein überplantes Lastauto kam den Weg entlanggefahren und hielt am Tor. Zuerst entstiegen dem Wagen einige SS-Leute, ihnen folgten Häftlinge. Krämers Augen wurden weit. Gespannt starrten die Blockältesten durch das Tor, das waren doch …
Krämers Herz begann heftig zu schlagen. Es waren die verhafteten Häftlinge der Effektenkammer, die vom Blockführer in Empfang genommen wurden. Reineboth erschien und wollte sich der Angekommenen bemächtigen. In diesem Augenblick trat Schwahl, von Weisangk und Wittig, der Ordonnanz, begleitet, aus seinem Gebäude und ging auf das Tor zu. Reineboth hatte nicht mehr Zeit, sich um die Häftlinge zu kümmern, ließ sie an der Mauer des Tores antreten und ging dem Kommandanten entgegen.
Schwahl blieb vor den Häftlingen stehen.
»Was ist das hier?«
Reineboth meldete: »Auf Befehl Hauptsturmführer Kluttigs neun Häftlinge und ein Toter von Gestapo Weimar ins Lager zurück.«
»Ah«, machte Schwahl interessiert. Er betrachtete sich die Häftlinge, die neben sich eine Last niedergelegt hatten, in eine Decke eingehüllt.
Krämer wollte das Herz stillstehen, unter den Angekommenen hatte er Pippig nicht entdeckt … Da aber lag ein Toter …
Schwahl sprach die Häftlinge an, so deutlich, dass seine Worte auch von den Blockältesten verstanden werden konnten.
»Danken Sie Ihrem Schöpfer, dass Sie
mir
in die Finger gelaufen sind.« Er wandte sich Reineboth zu. »Die Leute sind ins Lager zu entlassen!« Reineboth schlug die Hacken zusammen. Der Blockführer schloss das Tor auf. An Krämer und den Blockältesten vorbei rannten die Häftlinge über den Appellplatz. An der Mauer blieb der Tote zurück.
Krämer verwirrte das Ereignis, aber schon trat der Kommandant durchs Tor, und Krämer musste seine lästige Pflicht erfüllen. »Blockälteste, stillgestanden! Mützen ab!«, kommandierte er. Schwahl winkte: »Rühren!«
Reineboth verhielt sich im Hintergrund, den Daumen hinter die Knopfleiste geschoben, und trommelte mit den Fingern. –
Schwahl ging einige Schritte hin und her, dann blieb er stehen. Er stützte die Fäuste in die Seiten, schob den Bauch vor und ruckte sich in den Schultern zurecht.
»Ich habe die Leute ins Lager entlassen. Haben Sie das gesehen?« Er blickte
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