Nackt unter Wölfen
Ohren gezogen, sie war ihm tief in die Stirn gerutscht, der schlottrige Anzug war ihm viel zu groß, die nackten Füße steckten in unförmigen Holzschuhen. Mit dem langen, ausgefransten Jackenärmel wischte sich Jankowski die Tränen aus den blinden Augen. Ein armseliges Stück Mensch, das nur noch so viel Kraft des Herzens hatte, bescheiden zu bitten: »Gebt ihn mir, bitte, gebt ihn mir.« Er wollte vor Kropinski in die Knie sinken, der hielt ihn an den Ellenbogen aufrecht und rüttelte ihn, als könnte er ihn damit zur Besinnung bringen. »Weine nicht, Bruder, weine nicht«, bat er den Verstörten. »Warum weinst du nur so sehr? Du bist doch gar nicht der Vater.« Jankowski begehrte auf: »Ich bin mehr als der Vater!« In heißer Aufwallung presste Kropinski den Unglücklichen an sich und küsste ihn: »Geh, Bruder, die heilige Gottesmutter beschütze dich.«
Jankowski wollte nicht von ihm lassen und hielt sich an ihm fest, doch Kropinski ertrug die Qual nicht mehr. Wiederund wieder drückte er den Verlassenen an sich, dann befreite er sich von ihm und floh.
»Bruder, Bruder!«, rief Jankowski ihm nach, aber der Fliehende wollte nichts mehr hören. Kraftlos ließ Jankowski die Arme fallen, er wimmerte nur noch leise, und der nervöse Blockälteste, der den Polen wieder außerhalb der Reihe stehen sah, fuhr wütend auf ihn ein: »Verdammt noch mal, was stehst du bloß immer rum, scher dich endlich in dein Loch!«
Ergeben kroch Jankowski in sein Marschglied zurück und torkelte, vom Herzweh verkrümmt, mit dem langen Zug den Berg zum Appellplatz hinauf. Hier gab es noch einmal ein Gebrüll und Geschrei.
Reineboth zählte den Transport durch und stellte ihn neu zusammen, dann öffnete sich das Tor, und der graue Tausendfüßler quoll träge und mühselig zum Lager hinaus.
In der Hast der Abfertigung hatte Krämer nicht mehr an das Kind gedacht. Jetzt, da der Elendszug an ihm vorbeikroch und er einen Häftling mit einem Sack auf dem Rücken im Zug entdeckte, fiel es ihm wieder ein. Wird es dieser sein?, dachte er.
Aber es war nicht der polnische Jude Zacharias Jankowski. Der taumelte seiner nächsten Station ohne Gepäck entgegen.
Nun war es also geschehen! Das Unwiderrufliche seiner Tat stand Höfel in aller Deutlichkeit vor Augen{, doch es gab kein Zurück mehr.
Solange der Transport das Lager noch nicht verlassen hatte, vermied es Pippig, mit Höfel zusammenzutreffen, doch hielt er sich ständig auf dem Sprung, dazwischenzufahren, wenn es sich Höfel in letzter Minute noch anders überlegen sollte.
Höfel überlegte nicht mehr, er saß im Schreibbüro und wartete. Wartete …}
Pippig indessen atmete erleichtert auf. In Ordnung, das Kind war gesichert. Klarer Fall! Er hatte ein diebisches Vergnügen daran, wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Wem? Der SS? Dem armen polnischen Juden Jankowski?Dem Leben? Dem Schicksal? – Alles viel zu kompliziert. Darüber denkt man nicht nach. Man freut sich vielmehr, ein kleines Miezekätzchen organisiert zu haben.
Und Kropinski? Der saß {nach seiner Flucht vor Jankowski} im Schutz des Winkels, hatte das Kind auf dem Schoß und sang ihm leise, ganz leise Lieder aus der Heimat vor.
Höfel brachte die Effektenliste. »Wegen der Motte da«, sagte Zweiling, »die sollte wohl mit auf Transport gehen, stimmt’s?« Er zog die Unterlippe herab und schob die Zunge vor. Höfel zögerte einen Moment mit der Antwort und entgegnete nach kurzem Entschluss: »Jawohl, Hauptscharführer.« – »Nun müssen Sie aber dichthalten und die anderen auch.« – »Jawohl, Hauptscharführer.«
Zweiling verzog unmutig das Gesicht: »Jawohl, jawohl«, äffte er, »wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. In ein paar Wochen sind die Amerikaner hier, und dann können Sie Ihre Motte auf den Arm nehmen und zu den Amerikanern sagen: Das haben wir unserem Hauptscharführer zu verdanken …«
Höfel quälte sich die Antwort ab: »Jawohl, Hauptscharführer.«
Zweiling vergaß seine Freundlichkeit: »Mensch, mit Ihrem ewigen Jawohl! Schließlich ist es eine tolle Sache, dass ich … wenn es rauskommt, fliegt ihr alle in den Bunker. Mir kann dabei gar nichts passieren, das ist Ihnen doch wohl klar?«
»Jawohl!«
{Zweiling überging Höfels Undurchdringlichkeit: »Was haben Sie eigentlich gedacht, dass ich Sie nicht habe hochgehen lassen?«
Dieser Frage konnte Höfel nicht mehr ausweichen, widerwillig antwortete er: »Das war anständig von Ihnen, Hauptscharführer.«
»Wirklich?«
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